Mittwoch, 30. November 2011

Geile Nazis

Wenn ein Film vier Preise gewinnt, muss er in mindestens einer Hinsicht ungewöhnlich sein. Dieses Ungewöhnliche trägt "Kriegerin" unmissverständlich gleich in den ersten Szenen vor, in denen Nazis im Regionalexpress "Kanaken aufmischen". Worte wie "schonungslos", "beängstigend nah" sind in den Laudatios gefallen. Betroffenheitslyrik, weil der Film Jungnazis aus der Nähe zeigt. Man mag explizite politische Themen aus ästhetischen Gründen als Sujets für Spielfilme ablehnen. Wenn man das dem gegenüber keine Voreingenommenheit an den Tag legt, bleibt als Problem solcher Filme, dass sie dramatisieren, was als Tagesgeschehen real die Zeitungen füllt. Oder in diesem Fall: Was im Dokumentarbereich schon von Filmemachern wie Thomas Heise ausführlich und facettenreich beleuchtet worden ist. Das Manko eines Spielfilms ist, dass er einen Anfang und ein Ende finden muss, psychologische Plausibilität im Unplausiblen ergründen muss und Realitätsabbildungen anhand von Konstruktion herstellen muss. Und hier hat der Film so seine Probleme. Er braucht einen B-Plot mit Afghanistan-Flüchtling, den die weibliche Skin-Hauptfigur Marisa auf einmal retten will, nachdem sie ihn samt Bruder erst einmal umbringen wollte. Das Menschliche erfüllt sich paradox im Anerkennen des Gegenteils. Von der Floskelhaftigkeit dieser falschen Dialektik einmal abgesehen ist sie hochgradig unrealistisch. Der Ausländerhass der Figur geht übers Menscheln verloren, kaum hat man sich an ihn gewöhnt. Der Fernsehzuschauer wird bei Chips und Kaltgetränk froh sein, dass bei all dem Judenhass und "Ausländer-raus"-Gegröhle alles nicht so schlimm ist, wie man denkt, unter der harten Schale noch ein weicher Kern wabert. Nicht nur dieser Vergröberung macht sich der Film schuldig: Das Nazi-Milieu ist durchweg roh, gefühllos, kalt, brutal, hasserfüllt. Es gibt keine Zwischentöne, keine Grautöne und natürlich auch nur harten und gefühllosen Sex, keine Liebe oder Leidenschaft. Nur zwischen den Frauen scheint überhaupt Kommunikation möglich. Und so liebevoll die Gestaltung des Umfelds der Protagonistinnen mit seinen Ostklischees ist: Es zementiert eine Sicht aufs Phänomen, die weit hinter den Erkenntnissen von Thomas Heise zurückbleibt. Zentrales Ärgernis neben der Flüchtlingsrettung ist hier die Figur des geliebten Nazi-Opas, der, damit alles doch ein wenig versöhnlicher ist, im Film wenigstens stirbt. Doch es bleibt, dass der Film es sich einfach macht, die bösen Onkels der vorletzten Generation für die Nazis heute verantwortlich zu machen. Das Irritierende von Filmen wie "Stau jetzt geht's los" war ja, dass es dieser biografischen Stütze nicht bedarf, um ein strammer Neunazi zu werden. Manchmal reicht ein geschlossenes Jugendheim. Nazi-Ideologien können auch für Perspektivlose aller Herkünfte attraktiv werden, zum Unverständnis beispielsweise ihrer überzeugten SED-Eltern, aber eben auch im Westen. Dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht einmal ein besonderes Merkmal der Neonaziszene sind, was ja noch bestürzender ist, will der Film nicht wissen. Nazis sind hier ostdeutsche Enkel echter Nazi-Verbrecher. Das gerade in ihrer Normalität Entsetzliche der Neonazi-Biografien wird mit dieser Distanzformel auf Abstand gehalten. Die in den Plot hineingestemmte Geschichte von der Sechzehnjährigen, die bei den Nazis ihren Ausbruch aus der Bürgerlichkeit sucht, wirkt wie ein Alibi für diesen Befund. Wir multikultisozialisierten Wessis können auf jeden Fall aufatmen: Wir haben mit diesem Völkchen zum Glück nichts gemein. So kann man am Ende des Films gerade wegen dieser bequem gefundenen Formel applaudieren und den Film mit Preisen überschütten. An den Nazis wird er spurlos vorbeigehen, vermutlich aber auch am Mainstream der jüngeren deutschen Kinozuschauer, die eine andere Gemengelage kennen.

Freitag, 25. November 2011

Gedrillte Träume - Inception

Selten habe ich im Film eine derart auf Linie der Computerspielästhetik gebrachte Dramaturgie wie in der Großproduktion INCEPTION gesehen. Dabei ist gegen die Verwendung solcher Schemata prinzipiell genau so wenig einzuwenden wie gegen die Anklänge von Juwelenraub- und Agentenfilm, die dieses kalte künstliche Gebäude einer Geschichte persönlicher Verwicklungen eigentlich mit Leben erfüllen sollen. Die unter diesem Diktat entstehende Bildwelt fällt jedoch weit hinter die der Träume zurück, die der Film seit den Filmexperimenten der Surrealisten geträumt hat. Nolans Traumwelt ist von exakt der gleichen Logik erfüllt, wie die Wachwelt seiner militanten Helden. Traumarchitekt heißt in dieser Welt in erster Linie Architekt. Die Bauten sehen wie Bauten des normalen Lebens aus, ob sie digital aufgebrochen, um 90 Grad gedreht, komplett animiert oder nur künstlich verlängert sind. Die Bildwelt suggeriert: Traumbilder gleichen Bildern der Wirklichkeit, wenn sie die Nachbearbeitung der special-effects-Abteilung durchlaufen haben. Nur in wenigen Momenten des Films, der wegbrechenden Küstenlandschaft aus verfallenen Häusern oder dem Intro des Films nutzt der Film die technischen Möglichkeiten der digitalen Revolution im Sinne eines Zugewinns an Bildlichkeit gegenüber den Leihgaben aus unserer Erfahrungswelt. Den Sinn dieser enttäuschenden Selbstbeschränkung begreift man, wenn man das komplizierte Ebenensystem als das auffasst, was es wohl in erster Linie darstellen soll: Die Spielebenen eines Adventure-Computerspiels. Sauber werden hier Teilnehmergruppen getrennt, die in der Lage sind oder eben nicht, eine Ebene weiterzuträumen. Nur die verstorbene Frau des Protagonisten ist eine ungebundene Figur, die als immer störendere animierte Störfigur, als im Traum mordendes Monster auftritt, das personifizierte game over, verlockend, mit verstörend präzisen Wasserwellen, eine Stepford-Spielart der bösen mittelalterlichen Frau Welt. Die filmische Illustration der Angst vor Weiblichkeit vermeidet jedoch in ermüdender Prüderie jede noch so kleine Andeutung erotischer Phantasien, alles Exzessive des Traumgeschehens, mit dem sich Freud und Nachfolger seit nun über einem Jahrhundert beschäftigt haben. Nicht mal aus der Attraktion der zweiten Frau im Film werden Funken für das Traumgeschehen geschlagen. Geblieben ist nur das Lied von Edith Piaf "je ne regrette rien". Als ob es hier etwas zu bedauern gäbe außer den üblichen verdächtigen dramaturgischen Kniffs: Die Uhr tickt, man schafft es gerade noch in der letzten Sekunde den "Kick" zu setzen, die Ebenen zu wechseln, die Energie geht fast verloren, in letzter Sekunde rettet der sachgerechte Einsatz einer Handgranate. Alles, um nicht in den Limbus abzusinken, die Vorhölle dieser Reißbrett-Traumkonstruktion, aus der keine Rückkehr möglich scheint. Vielleicht wäre in diesem theologischen Off, in dem sich die Seelen für den Gang zur Hölle oder zum Paradies prädestinieren, getreu konservativer Doktrin mehr zu erwarten als die Abarbeitung der Tötung anonymer Gegner. Es bleibt dem Zuschauer jedoch versagt. Selbst das Paradies ist mindestens aus zweiter Hand das eines amerikanischen Mittelklassefamilienvater: Vorortvilla, Garten und zwei Kindern, Junge und Mädchen, die liebende Ehefrau im Hintergrund. Es fehlt nur die Andeutung des Chevrolets in der Garage. Traumarbeit ist das nicht. Sie müsste sich fragen, warum der routinierten Massenhinrichtung der "Projektionen" auf den diversen Ebenen keinerlei Trauma aktueller Kriegsschauplätze zugrunde liegt und das bedrohlich Erotische, Weibliche nur am Rand des Geschehens und sonst in den Kerker des Unterbewussten weggeschlossen präsentiert wird, den noch nicht einmal der Traum erreicht. Da unterschreitet der Film seine Möglichkeiten ohne Not und lässt zumindest mich dadurch völlig kalt. Er hat mich am ehesten noch geärgert. Denn was hier geträumt wird, sind Heldenträume einer Zuschauerschaft im Zeitalter der vollständigen Mobilisierung. Nur weiß man noch nicht so recht, wogegen sich der herbeigeträumte Krieg richten wird. Gegen Asien? Gegen das Wirtschaftskapital? Ein Anfang aber scheint gemacht.

Dienstag, 22. November 2011

Ästhetik des Widerstands?

Ergänzung zu einem Post bei Parallelfilm zum blog halbnah und der dortigen Verhandlung einer Rede von Thomas Brasch anlässlich der Preisverleihung 1981 durch Franz Josef Strauß für den Film "Engel aus Eisen"

Auch der Film "Deutschland im Herbst" spricht nicht mit einer Sprache und schon gar nicht aus einer politischen Perspektive. Und eine Preisverleihung durch FJS - der ja Autoren wie Grass gerne mal als "Schmeißfliegen" bezeichnet hat und eine Säuberung der deutschen Sprache befürwortet hat - fällt schon ganz besonders unter das, was Thomas Bernhard in "Wittgensteins Neffe" als "auf den Kopf machen" bezeichnet hat. Auch gegen Herrn Rohrbach wäre das ein oder andere einzuwenden, aber nicht offene Feindseligkeit gegen politisch aktive Exponenten des Kulturbetriebs. Die politische Diskussion zu Braschs Zeiten kannte auch schon Positionen wie die Adornos, nach der künstlerisch-politisch avanciert nicht unbedingt heißt sich mit seiner Kunst der politischen Aktion zu verschreiben. Verstrickungen sind unentrinnbar. Entscheidend ist, wie man mit dem Schmerz darüber umgeht, wenn man ihn verspürt.

Freitag, 8. Juli 2011

Eine flexible Frau

Die Aussagen, die in diesem Film auch alle "gesagt" werden, sind alle stimmig und interessant. Dienstleistung als Falle der Emanzipation, die Rückständigkeit des scheinbar modernen Mutterbildes in Deutschland, die Härte einer Arbeitswelt, in der eine vierzigjährige Arbeitslose schwer vermittelbar ist. Doch diese Stimmigkeit wird immer wieder bedroht von Entscheidungen der Umsetzung. Die Figuren bleiben Figuren, wirken vielfach nicht erfüllt mit dem, was sie transportieren sollen, sondern besetzt mit Emblemen, Motiven, Aussagen. Die schwulen Tänzer sind ganz schwul, die jungen Mütter ganz egozentrisch und paranoid, die Callcenterchefin ganz kalt und seelenlos, der Stadtführer ganz ein theoretischer Feminist. Diese Gänze, diese Lückenlosigkeit in den Figuren, macht sie vielfach zu uninteressanteren Marionetten der Regie.

Auch die Hauptfigur ist besetzt damit, Architektin zu sein. Aber kein einziger Satz, keine Geste, kein Kleidungsstück zeigt uns, dass sie das nicht nur nach dem Willen des Drehbuchs ist. Emblematisch die Orte Callcenter und Bewerbungstrainingsagentur. In den letzten Jahren waren das die Fetische: von Muxmäuschenstill, Science Fiction, Falscher Bekenner, Selbstgespräche bis Slumdog Millionaire. Der junge Film zeigt das Callcenter als Ort der Entpersonalisierung einer von der Dienstleistungsgesellschaft in Sklaverei genommenen unteren Mittelschicht. Zurecht, aber eben bei vielen dieser Filme und auch in diesem: zu deutlich. Die Stellvertreter von Metatext sind da genießbar, wo die Darstellung in Trash übergeht. Die alkoholsüchtige Arbeitsamtsberaterin, die schließlich aus der Hand ein dunkles Schicksal liest zum Beispiel. Die Grundschullehrerin - die allerdings in ihrer Diktion reichlich amateurhaft rüberkommt. Die Theaterschauspielerin im Biergarten, die mal eben Hölderlin zitiert, als stünde der Selbstmord der Hauptfigur dramaturgisch bevor.

Die erlösende Brechung der für etwas stehenden Figuren erfolgt durch Überdrehung, Überdehnung, nicht durch Vervollständigung mit Widersprüchen. An Einfällen in diese Richtung ist der Film reich, fängt sie aber immer wieder auf in eher realistischen Momenten, die die Hauptfigur, einmal von allem Metatext entblößt, als überforderte und dem Alkohol zugewandte Mutter eines zwölfjährigen Kindes zeigen, der ihr Scheitern in Beruf und Beziehung nicht erträgt.

Man kann gespannt sein, was da noch kommt.

Dienstag, 5. Juli 2011

Archiv

(nach einem Gespräch mit Thomas Pfeiffer von der Hamburger Cinemathek)

Die fotografische Aufnahme ist immer schon im Moment der Belichtung vergangen. Diese Ausgangsbeobachtung von Roland Barthes Chambre claire stellt die Betrachtung von Film immer auf historische Distanz. Die kann so unmerklich sein, dass sie der Zuschauer nicht verspüren will. Gleichzeitigkeit der Perzeption und des Darstellens, wie in der live-Übertragung, unterstellt er zwar nicht. Wen schon mal die Nachricht erschüttert hat, dass einer der Darsteller beispielsweise zwischen Dreh und Vorführung verstorben ist oder sogar der Filmemacher, kennt aber die gefühlte Distanzlosigkeit von Filmen, die in dem diffusen Zeitgeschehen spielen sollen, das Gegenwart genannt wird.

Bei alten Filmen gehört es zum besonderen Reiz des Zusehens, dass die gezeigte alte Welt längst untergegangen ist, besonders, wenn man sich an deren Gegenwart noch erinnert. Für diesen Untergang gibt es Zeichen: Die Mode ist eine andere, Automarken sind veraltet, Gebäude inzwischen abgerissen, die zu sehen sind.

Auch das Filmmaterial hat seine Art, diesen Untergang zu illustrieren. Durch Kratzer, fehlende Stellen in der Kopie, chemische Zersetzungsprozesse, die zu Rotstich oder Bonbonfarbigkeit führen. Das unmerkliche Altern eines Films prägt sich so durch Merklichkeiten ein, die den Abstand zum Gezeigten mehr lenken, als man denkt. Perfekt digital restaurierten Kopien fehlt dieses Merkliche und stört die Rezeption als historisches Dokument.

Das verspürt wohl der Archivar als Verlust, wenn er sich bei Ansicht einer solchen Fassung um die Aura des Vergänglichen betrogen sieht, die seine Tätigkeit sonst umgibt. Auch wenn die ganze Arbeit der Archive auf das Bewahren und Retten vor dem Untergang gerichtet ist, wenn die Bewunderung für alte Technicolor-Filme auch daher rührt, dass sie sich den chemischen Auflösungsprozessen effektiver widersetzen als andere Filme, so ist die digitale Restauration, die Filme wie neu erscheinen lässt, offenbar ein Eingriff in den Lauf der Dinge, der als widernatürlich wahrgenommen wird, ähnlich den Firnissrestaurierungen bei El Greco oder der Sixtinischen Kapelle, bei denen man sich an Schichten aus Schmutz und Wachs so gewöhnt hatte, dass die klaren Farben heute künstlich erscheinen.

Die Alternative zu diesen künstlich runderneuerten Kopien sind aber vor allem technisch schlechte Kopien, abgegriffene VHS-Kopien, DVD-Abtastungen von abgenudelten und verstümmelten Versionen. Und schlechte Kopien sind immer noch besser als gar keine. Der größte Feind aller Filme ist ihre Unsichtbarkeit, die totale Dunkelheit. Der Verlust aller physischen Kopien ist die ewige Dunkelheit. Filme, deren letzte und zu Originalen erhobene Kopien aus konservatorischen Gründen nicht mehr zu sehen sind, verdämmern ungesehen verwahrt in den Kühlschränken der Archive. Kein Eintrag ins Archiv ersetzt den sichtbaren Film.

Dienstag, 28. Juni 2011

Agogik II

Die klassische musikalische Formenlehre, die dem Lied abgeschaut ist und deshalb auch noch Pop- und die meisten Jazzmusiken dominiert, kennt Takte als metrische Einheiten der Betonungsorganisation. Motive sind meist zweitaktig, zwei Motive fügen sich zu einer Phrase, zwei Phrasen ergeben eine Melodieführung. Auch wenn von Anfang an die strenge Teilbarkeit durch vier Takte durch Überlappungen, endlose Melodien, Vorhalte und andere Abweichungen konterkariert worden ist, so kann man die meisten klassischen Stücke und fast alle Standards sowie alles aus Blues und Rock, in Viertaktblöcke teilen, die gewisse Sinneinheiten ergeben. Eine Aufgabe der Agogik besteht darin, diesen Viertakteinheiten klanglich einen Bogen und damit einen Bedeutungszusammenhang zu geben, den sie laut Notation vielleicht nur durch Pausen am Schluss haben. Dieser Teil der Agogik, die Anlage von Phrasen in satzähnliche Einheiten, die dann aufeinander aufbauen, betrachet ein Musikstück als einen Stimmungsverlauf, als ein Farbwechselbad, in dem Brüche von Phrase zu Phrase genau so als Gestaltungsformen erlaubt sind, wie allmähliche Übergänge.

Nicht selten finden sich in Liedschemata vier Achttaktblöcke, die jeweils aus zwei Viertaktblöcken bestehen: A, A', B, A. Es ist merkwürdig, dass auch die meisten dramaturischen Modelle vier dramatische Einheiten kennen. Ob bei Tschechow, Dostojewski, in der Drehbuchtheorie der drei ungleich langen Akte - der zweite als doppelt langer: Als wäre es auch diesem Kuchen vorgegeben, vorerst halbiert und dann geviertelt zu werden. Eine Übertragung des Liedschemas auf Film ist als Gedankenspiel möglich. Es schläft ein Lied in allen Dingen.

Mittwoch, 22. Juni 2011

Agogik

Der Begriff wird außerhalb der Musikerziehung wohl nur selten verwandt. Er bezeichnet die "Führung" des Vortrags jenseits des Notierten. Was die Noten vorgeben, ist nur die halbe Wahrheit. Wer schon mal den "seelenlosen" Vortrag eines Musikprogramms beklagt oder der automatischen Melodie eines Kleinkinderklaviers gelauscht hat, kennt den Unterschied. Die als gelungen empfundene Gestaltung einer Melodie setzt eben auch Abweichungen vom Metrum, eigene Verteilungen von Lautstärken und Geschwindigkeiten voraus, also aktiven Widerstand gegen das geschriebene Notat. Ohrenfällig ist die Variabilität der Darstellung beim Vergleich verschiedener Versionen eines notierten Stücks. Glenn Goulds zwei Goldbergvariationen sind eine Variation in der Variation. Selbstverständlich ist die Eigenheit der Interpretation in der improvisierten Musik aller Schattierungen, wobei jede noch so abgedrehte Cover-Version darauf besteht, dass das Melos der Ausgangsnotation, des gecoverten Stückes, wie weit auch immer rhythmisch oder harmonisch verfremdet und durch Unausgeschriebenes umsponnen hörbar bleibt. Besondere Bedeutung hat die Agogik als die Lehre von den die gute Gestaltung entscheidenden Minimalverschiebungen, die zu Reibungsphänomenen zwischen Melodie und Rhythmus oder Aufmerksamkeitsverlagerungen, zum Beispiel auf Nebenmelodien führen. In der Interpretation von Texten gibt es kein Metrum, gegen das die Prosodie angehen könnte. Die Reibungsphänomene sind anderer Natur. Die vermeintlich immergleichen Buchstaben, die starre Interpunktion, sie suggerieren einen homogenen, gleichförmig gedachten Text, den der Schreiber noch so lebhaft sich gedacht haben kann: Schwarz auf weiß sind alle Worte gleich. Die Transformation der erstarrten Form, ihre Verflüssigung erfolgt, wie bei der musikalischen Notation, durch Lektüre und deren Artikulation, die über Punkte hinwegliest, grammatikalisch richtige Kommata nicht als Haltezeichen interpretiert, Betonungen setzt, wo keine verzeichnet sind. Im Drehbuchtext gilt es als ungern gesehener Vorgriff auf die Zubereitung des Dialogs, der einzigen Textform im Drehbuch, die im Sinne der Agogik bearbeitet wird, wenn Betonungen durch Unterstriche oder Majuskeln vorgegeben werden. Ansonsten sind die Freiheiten von Schauspieler und Regisseur dem Text gegenüber eher die eines Jazzmusikers, der einen Standard interpretiert. Die Reibung entsteht teils durch Dehnungsphänomene, teils aber durch Abweichung vom Text selbst. Erkennbar bleibt die gecoverte Melodie.

Entsolidarisierung

Price Waterhouse Cooper wirbt derzeit für neue Mitarbeiter mit dem Spruch "Weltunternehmen vor exotischen Steuern schützen". Das Präfix Welt- hat Konjunktur in der Globalisierungsdiskussion. Ein Weltunternehmen ist nicht irgendeins, sondern ein wichtiges, das für sich zu existieren scheint. Ohne Aktionäre oder Anteilseigner, die vielleicht von ihm profitieren können. In der Rhetorik des Tierschutzes erscheinen hier Unternehmen als Lebewesen die besonders gehegt und gepflegt werden müssen. Bedroht sind sie, so suggeriert der Text, von abseitigen Steuerforderungen. Der Begriff exotisch klingt nach bunt und willkürlich. Menschenfresserei im Wirtschaftsleben. Dass Steuern etwas Schädliches sind, werden ja auch die Boulevardzeitungen nicht müde zu betonen. Steuersenkungen werden mit dem Gestus der Begünstigung der Armen und Unterdrückten gefordert, die sich vermutlich trotzdem wundern, wenn Schwimmbäder geschlossen und Buslinien eingestellt werden. Ein Trost ist die Plakataktion selbst. Es ist jedoch vermutlich zu früh, ein Ende des Neoliberalismus zu feiern, wenn PWC mit flächendeckenden Plakatkampagnen für neue Mitarbeiter werben muss.

Donnerstag, 9. Juni 2011

Revolver, Heft 24


Das Cover ist schon da, das Heft kommt noch in diesem Monat. Darin diesmal Interviews mit Mia Hansen-Løve (Revolver live in Paris), Eoin Moore (über seine Erfahrung mit dem Polizeiruf), Agnès Varda, Denis Côté, sowie kurzen Texten von Bob Frost, Laurens Straub und Meir Shalev. Ein schönes Heft, inhaltlich wie in der Gestaltung.

Hinter der Fassade. Christoph Hochhäusler und seine Filme

Die Kritik hat sich immer schon damit abfinden müssen, dass die Filmemacher nicht so wollen, wie man sich das erhofft. Das Verhältnis ist angespannt. Eric Rohmer hat das sarkastisch auf den Satz gebracht: "Es ist normal, wenn sich ein Kunstkritiker als Prophet versucht, weil es streng genommen seine Aufgabe ist, Geldanleger zu beraten." Zum Beispiel die Käufer einer Kinokarte. Wie seinerzeit mit der "Nouvelle Vague" geht es derzeit offenbar einigen Kritikern, die ihre Hoffnungen auf einen Neuanfang des deutschen Kinos auf den Begriff der "Berliner Schule" gebracht haben: Sie finden sich um Illusionen betrogen, die sie sich gemacht haben. Spürbar ist eine Ungeduld, die weder den Produktionsbedingungen noch den gelungenen Filmen aus dem Umfeld gerecht wird.

"Berliner Schule" brachte von Anfang an ein reales Phänomen auf den Punkt, auch wenn es sich im strengen Sinne nie um eine Schule gehandelt hat. Das Netzwerk ersetzte die nicht vorhandene Tradition, trug über das an Handwerksschulung hinweg, was die Filmhochschulen nicht leisten konnten oder wollten. Bestimmend sind ähnliche ästhetische Abneigungen und Vorlieben. Nahezu jeder, der zur Gruppe gezählt wird, hat sich im Zentralorgan der Gruppe, der Zeitschrift "Revolver", schon einmal zu seiner Art Filme zu machen geäußert. Die Neigung dieser Filmemacher zum künstlerischen Manifest ist ein Plädoyer fürs Kinomachen als eine intellektuelle Herausforderung, die Reflexionen auf die Form einschließt und nicht als Verlust an Wirklichkeit ansieht. "Die eigentliche Arbeit des Filmemachens liege im Denken, sagt Chaplin", war dem ersten "Revolver"-Heft als Motto voraus gestellt. Auf dem Cover, kaum erkennbar, Fassbinder mit Revolver.

Der Gegensatz zum ängstlich auf Alleinstellung bedachten Herumwurschteln des Originalgenies ist genauso programmatisch wie die Ablehnung der Münchner Komödie und allem, was darauf folgte. Der Hang zu bürgerlichen Sujets, der keineswegs durchgängig ist, entstammt der Abneigung gegen das romantisierende Sozialdrama, dessen Klischees einer auktorialen Erzählung des Politischen vermieden werden, je entschiedener die politische Aussage gesucht wird. Diese Art, Kino zu machen, ist in ihrer Kompromisslosigkeit bei den deutschen Produktionsbedingungen gefährlich. In Deutschland ist es immer einfacher, einen ersten als einen dritten Film zu drehen. Budgets für Debütfilme sind bei Sendern und Stiftungen reichlich vorhanden. Der Reiz des Neuen verbindet sich hier mit dem der Nachwuchsförderung, mit der man sich schmücken kann. Es gibt immer wieder etwas zu entdecken, und nach einem gelungenen Debüt winkt oft ein zweites Projekt. Haben sich dann die Erwartungen der Geldgeber nicht alle erfüllt, wartet ja jederzeit eine neue Generation, die vielleicht neue Hoffnungen nährt. Genau in dieser gefährlichen Situation des dritten Films befinden sich derzeit zahlreiche der Filmemacher, die der "Berliner Schule" zugerechnet werden. Anerkennung im Ausland und Festivalpreise gehen mit handfesten Problemen einher Gelder für den nächsten Film zu akquirieren.

Von Christoph Hochhäusler, dem programmatischen Kopf von "Revolver", waren bislang zwei Filme im Kino zu sehen. "Milchwald" im Jahr 2004, einige Monate nach dem Filmstart in Frankreich, zuletzt "Falscher Bekenner" im Jahr 20006, wobei letzterer ohne Fördergelder von Heimatfilm auf eigenes Risiko produziert wurde, aber sogleich in Cannes in der Reihe Un certain régard zu sehen war. Erst 2009 gelang es Hochhäusler, einen dritten Langfilm zu drehen, "Unter dir die Stadt" (Kritik in dieser Ausgabe). Auch der lief in Cannes, 2010 als einziger deutschsprachiger Beitrag der "Sélection officielle", und kommt jetzt, nachdem er in Frankreich erfolgreich lief und nahezu zeitgleich in den Benelux-Ländern die Kinos erreicht, auch in deutsche Kinos. Zuvor war schon Hochhäuslers vierter Film, "Eine Minute Dunkel", als Teil der Fernseh-Trilogie "Dreileben" auf der "Berlinale" zu sehen (vgl. fd 06/11).

Man fragt sich allerdings, was es dem deutschen Verleih so schwer gemacht hat, den Film ins Kino zu bringen? Und wieso einer recht umfangreichen Würdigung in französischen Zeitungen nichts Vergleichbares in der deutschen Presse gegenübersteht. Ging es schon in "Falscher Bekenner" um das Gedankenspiel eines Jugendlichen, als Verbrecher zu erscheinen, obwohl er es nicht ist, sich zur Hauptfigur einer sexuell abenteuerlichen Fantasiewelt zu machen, an der er nicht einmal als Voyeur Teil hat, so sind die Hauptfiguren von Hochhäuslers neuem Identitätsdrama bereits einige Lebenserfahrungen und Winkelzüge weiter. Erfundene Lebensläufe und Erinnerungen sind routiniert eingesetztes Spielmaterial im Machtkampf der Geschlechter. Hinter den stets Dinge vorspiegelnden Glasfassaden der Frankfurter City versuchen die Protagonisten, ihre Gefühle zu unterdrücken, um nicht deren Opfer zu werden. Gierig stürzen sich die beiden zentralen Figuren auf Zufälle, die ihrem Leben neue Wendungen, ein neues schützendes Imago bescheren könnten. Der von beiden Seiten lustvoll herbeigeführte Identitätsverlust, die Intensität des erotischen Gerangels in Einkaufspassagen, Luxuslimousinen und Hotelbetten, zeigt, was unter der Oberfläche brodelt. Der Großbankier Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) setzt Karriere, Ehe und Ansehen gerade in einer heiklen Phase des Bankengeschäfts aufs Spiel, weil die Amour fou zur Ehefrau eines Untergebenen alles in Frage stellt, worauf er bislang glaubte, seine Identität gründen zu können. Der Argwohn, hinter der glänzenden Fassade, die er über Jahre kultiviert hat, längst leer zu sein, verschärft sich mit der Leidenschaft.
Svenja Steve, die Frau des Untergebenen, sehr lässig und überzeugend gespielt von Nicolette Krebitz, läuft schon am Anfang einer Frau hinterher, nur weil sie die gleiche Bluse trägt, um dann angewidert festzustellen, dass der Versuch, in ein anderes Leben einzutauchen, bereits mit der Wahl des Zuckerkringels beim Bäcker um die Ecke scheitern muss. Ihre Haltlosigkeit wird durch die fremde Stadt, in die es sie verschlagen hat, ihre eigene Desillusionierung und die scheinbaren Zwangsläufigkeiten der Karriere ihres Mannes forciert, der sie nur Hochstapelei entgegen zu setzen hat. Wie in der Geschichte von König David und Betseba steckt hinter der Beförderung des Ehemanns nach Indonesien Cordes, der sich auch noch mit der Working-Class-Biografie eines Toten schmückt, um bei Betseba/Svenja zu punkten.

Brillant setzt das Drehbuch, an dem der Romanautor Ulrich Peltzer beteiligt war, den fortschreitenden Selbstbetrug der Akteure in Szene, findet Dialoge für die verminte Kommunikation in Liebesdingen und trifft dank ausgiebiger Recherchen den Ton im Büroalltag einer Großbank. Bernhard Keller als Kameramann findet die entsprechenden beiläufigen und doch genau kalkulierten Bilder zu einem ungewöhnlichen Schauplatz, die keine Sekunde darüber im Unklaren lassen, welche Höhenniveaus der Macht mit dem Aufzug erreicht und verlassen werden. Wenn Cordes bei einem ersten Date Svenja zu sich zieht, so zieht er sie in den Goldrahmen hoch, der als Rahmen eines Spiegels im Hintergrund des gesichtslosen Hotelzimmers seine Silhouette in dieser Einstellung scheinbar zufällig kadriert. Bei der Vielzahl der gezeigten Aufsichten und Durchsichten wundert es nicht, dass Cordes stellvertretend für andere den Sinn für die menschlichen Verhältnisse verloren hat. Das Wort "Bankenkrise" wird mit keinem Wort erwähnt, und doch ist sie als Hintergrund stets präsent.

Wurde in "Milchwald" Architektur noch ausgestellt, so wirkt sie hier in der Zurücknahme stärker, obwohl sie die Handlung mehr bestimmt. Waren in den ersten beiden Filmen die Dialoge in ihrer Kargheit bisweilen erratisch, so haben sie hier eine Beiläufigkeit gewonnen, die dem routinierten Versteckspiel der Protagonisten zuarbeitet. Die Illusionierung wird aber methodisch immer wieder hintertrieben. In langen Gängen von der Kamera weg und auf sie zu, in denen man Off-Ton hört, in Momenten zum Dialog gegenläufigen Spiels, in denen Hunger-Bühler manchmal an seine Grenzen gerät. Gab es in der Vergangenheit problematische Experimente mit Kamerafahrten, die am Schauplatz vorbeifuhren, wird dieses Mittel inzwischen von Hochhäusler souverän zur elliptischen Bilderzählung eingesetzt. Die aufeinander treffenden Milieus werden in "Unter dir die Stadt" mit klaren Bild- und Spiellösungen voneinander abgegrenzt und aufeinander bezogen. Die Innenspannung der Geschichte ist vom ersten Moment an spürbar und hält zumindest bis zur vorletzten Abblende – mag man vom kurzen Epilog, der einen politischen Ausblick riskiert, halten, was man will. Die wunderbare Musik von Benedikt Schiefer ist zwar Teil der Handlung, aber sie wird, wie schon in "Falscher Bekenner", nicht dogmatisch auf ihren Live-Aspekt eingeschränkt, sondern als Mittel der Verfremdung in einer fremden Welt eingesetzt. Die Mischung aus realistischer Milieuschilderung, verfremdeter Atmosphäre und politischem Kalkül schließt eher an Filme wie Bertoluccis "Strategie der Spinne" an als an die einschlägigen Bänker-Filme, deren Nähe am ehesten in den Büroszenen zu spüren ist, als hätten die Protagonisten zu viele Filme gesehen, um sich anders verhalten zu können.
Was in Zukunft von Christoph Hochhäusler und der "Berliner Schule" zu erwarten ist, konnte man zum Teil auf der "Berlinale" sehen: Hochhäuslers überaus spannender Beitrag zu "Dreileben", "Eine Minute Dunkel", zeigt jedenfalls in ähnlicher Weise wie "Räuber" von Benjamin Heisenberg, dass diese Ästhetik weniger isoliert und aufgebraucht ist, als ihre Kritiker das beschreiben. Eine Flucht ins Genre, wie Rüdiger Suchsland teils zu wünschen, teils zu befürchten schien (vgl. fd xx/10), ist dieser Film gewiss nicht, weil die Reflexion der Form auch vor dessen Klischees nicht haltmacht. Der Revolver lag zwar schon mit Gründung der Filmzeitschrift vor zwölf Jahren auf dem Tisch, aber er kommt nach wie vor eher in der übertragenen Bedeutung des Wortes zum Einsatz. Das zeigt bereits die Grundanlage der Geschichte, in der es um einen unschuldig Inhaftierten geht, dem am Totenbett seiner Pflegemutter die Flucht gelingt und der bei zunehmendem Fahndungsdruck nach dem vermeintlichen „Monster“ tatsächlich Schuld auf sich lädt. Polizeiliche Ermittlung findet im Nebenplott statt, der Entflohene redet wenn, dann vorwiegend wirr mit sich selbst. Dem reinen Mitgefühl widersetzt sich ein solcher Sonderling. Man wünscht ihm trotzdem Schutz in den unbehausten Schutzräumen und Unorten, die Hochhäusler routiniert in das Verfolgungsszenario einsetzt: Höhlen, den Innenraum einer Autobahnbrücke, dichte Waldabschnitte, das verwohnte Haus der Pflegemutter.

Wie in „Unter dir die Stadt“ und schon in seiner offensichtlich Chris Marker reflektierenden Episode von Deutschland 09, die ohne Schauspieler gedreht das Nachleben der Toten in Dokument und Foto skuril in Szene setzt, wird auch hier mit der Unwägbarkeit der Bilder, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragen, operiert. Sieht man den zahlreichen Bildanspielungen und Verweisen an, dass Hochhäusler als filmhistorisch denkender Filmemacher dem Credo zuneigt, dass man als Zwerg auf den Schultern von Riesen steht, so zeigt dieser Ausflug in die Bildwelt des Vergangenen, dass die Hauptfigur als Kind auf den Schultern von Monstern hockt. Sind die Dokumente der Vergangenheit wenig verlässlich, so färbt das natürlich auf die immer schon vergangene Gegenwart im Film ab. Hochhäuslers Misstrauen in die Dokumentqualität der Filmbilder, an dem „so ist es“ jedes noch so künstlichen Arrangements, findet immer neue filmische Formen. Scheinbar Greifbares erweist sich als falsch oder montiert, Sichtbares ist vielleicht nur von den Figuren gedacht, Unsichtbares bestimmt das Geschehen. Film ist in dieser politisch gedachten Architektur eine trügerische Fassade, hinter der für den Zuschauer spannendes, schwer bestimmbares Terrain beginnt. Diese Konstante macht Hochhäuslers Filme sicher auch in Zukunft sehenswert.

Marcus Seibert

Der Autor ist redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift "Revolver".

Der Artikel erschien zuerst in Filmdienst 7/2011 www.film-dienst.de

Freitag, 3. Juni 2011

Spuren II




Einige der Bilder waren von den Klassenräumen aus zu sehen. Der expressiv-punkige Stil war unverwechselbar. Ein wenig altmodisch, wie ich unter Einfluss des Kunstleistungskurses fand, der mich aufmerksam für die Sprayerszene gemacht hatte. Aber die Bilder sprangen ins Auge, wenn man während des Unterrichts aus dem Fenster sah und an etwas anderes denken wollte. Wir kannten den Maler, er wohnte in der Nähe der Schule. Unverwechselbar der schnürende Gang des hageren großen Mannes mit dem Schnäuzer, den man immer alleine sah. Er war so etwas wie ein Held des Widerstandes, der dem öffentlichen Raum seine Meinungen entgegen setzte und dafür immer wieder Ärger mit den Behörden bekam. Aber das trug er nicht vor sich her, wirkte eher wie ein in Aachen gestrandeter weltläufiger Dandy. Später in Köln bin ich ihm wieder begegnet. Der Schnäuzer war weg, er trug manchmal eine Schiffermütze oder ein Toupet, trotzdem unverwechselbar. Warum, das habe ich erst vor zweieinhalb Jahren verstanden, als wir noch einmal umgezogen sind und ich Klaus Paier plötzlich im Hausflur sah. Er wohnte unter uns, war geschmeichelt, dass ich wusste, wer er war, obwohl er auf die Erwähnung der Wandmalerei reagierte, als gehöre das einem anderen, vergangenen Lebensabschnitt an. Es hieß, er arbeitet in einem Ökohof, den er mit aufgebaut hat. Nachts sah man ihn an seinem Schreibtisch sitzen und zeichnen. Aber dann fing er an, jedes Geräusch in unserer Wohnung zu hören. Er kam hoch zu uns, um sich über Bobby-Car-Fahrten mit Flüsterreifen zu beschweren, über titschende Tischtennisbälle. Wenn ich Klarinette übte, fand er das "unerträglich". Wir erfuhren, dass er schwer krank sei, schon seit Jahren, Aids. Das erklärte auch das Toupet, zumindest gab es dem geschmacklich fragwürdigen Versuch, fehlende Haare auszugleichen, einen Grund, ebenso dieser missgünstigen Art der akustischen Wahrnehmung. Im Herbst 2009 ist er gestorben, nachdem er wohl ein halbes Jahr die Wohnung kaum noch verlassen hat. Dem Haus hat er den Ritus einer gemeinsamen Feuerzangenbowle hinterlassen. Und neulich las ich in der Zeitung, dass seine Bilder in Aachen unter Denkmalschutz gestellt worden sind. Eine posthume Ehrung, die schon vielen Rebellen zuteil geworden ist. Er hätte sich vermutlich darüber gefreut, als wäre ein anderer geehrt worden, mit dem er mal verwandt war.



Am 9. Juni wird "Das Herz auf der Haut" im Blue Shell in Köln vorgestellt, mit Clemens Meyer und Torsten Krämer, zwei Autoren, die zu unserer Anthologie jeweils schöne Texte beigesteuert haben. Ich bin sehr gespannt, wie die Lesung in diesem Ambiente wird. Es gibt ja diesen Trend zur Lesung als Underground-Event. Das Thema gibt den Zusammenhang auf jeden Fall her.

Filmvorstellung Bübchen


Beim ersten Sehen fand ich die gesuchte Parallele zum italienischen Neorealismus, die Topographie der Unorte, die dieser Film mit enzyklopädischem Ehrgeiz betreibt, faszinierend. Er zeigt das Deutschland der späten 60er-Jahre als Summe von Verschnittlandschaften zwischen Stadtplanung, Ausbau der Infrastruktur und Industrialisierung. Und auch die vermeintliche kleinbürgerliche Gemütlichkeit des Einfamilienhauses wird von der Monströsität eines Kindermords heimgesucht. Nichts Heiles scheint es im Kaputten zu geben. Und doch wird auch diese scheinbare Negativsicht gebrochen durch die Schönheit der Ruine, das Pittoreske der Nebelschwaden über dem Schrottplatz und den grundsätzlichen Humor im Umgang mit den vermeintlich ernsten Figuren des Dramas. „Ich besetze die Leute immer falsch. Dadurch entsteht Welt. Denn wer ist schon, wer er sich vorstellt zu sein?“ (Roland Klick)

Es scheint ein antrainierter Reflex zu sein, nach Erklärungen zu fragen. Die heftigste Diskussion am Abend kreiste um die Frage, ob der Film nicht die Motive hätte aufdecken müssen, aus denen heraus die Hauptfigur den Mord begeht. Zum Glück tut er das nicht. Zum Glück vermeidet er die Krimikonvention der restlosen Aufklärung, die dem Zuschauer das in Deutschland so wichtige Gefühl der Sicherheit gibt, aber jeder Handlung Gewalt antut. Zum Glück überlässt Klick den Zuschauern die Lösung vieler Rätsel, an deren kunstvollem Aufbau der Film sich abarbeitet, um den mörderischen Jungen unschuldig ins Leben nach dem Film zu entlassen. Gerade durch das bildhaltige Schweigen, durch die Weigerung, den damaligen Schwerpunkten des sozialkritischen und politischen Erzählens nachzugeben, in einem Filmjahr, das so gegensätzliche Filme wie "Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos" hervorbrachte, gewinnt der Film eine Modernität, die ihn bis heute frisch erhalten hat.