Mittwoch, 20. Februar 2013

Dauer als Qualität

In ihrer abschließenden Besprechung der Berlinale und der Preisvergaben ("Ein kleines Wunder am Potsdamer Platz") hat Cristina Nord in der taz am Montag an entscheidender Stelle Jacques Rancière zitiert. „Der Realismus setzt Situationen, die andauern, gegen Geschichten, die verketten und immer schon zum nächsten übergehen.“ Sie untermauert damit ihre Kritik an Tanovics Film „Epizoda u zivotu beraca zeljeza.“ Dem „fehlt jedes Gespür dafür, dass es einer gewissen Dauer bedarf, um prekäre Lebensumstände filmisch zu erschließen.“

Ich habe den Film nicht gesehen und nach der Kritik von Cristina Nord weiß ich auch nicht, ob ich ihn mir noch ansehen werde. Trotzdem ist mir das Rancière-Zitat und die Argumentation gegen den Film hängen geblieben. Vielleicht, weil die Sätze so in Stein gemeißelt daherkommen: Der Realismus setzt... es bedarf einer Dauer... prekäre Lebensumstände erschließen. 

Das sind Formulierungen, die manifestartig eine ästhetische Position festschreiben, in der dem Begriff Realismus in Koppelung mit dem der Dauer ein zentraler Platz eingeräumt wird. Eine Art „Augenblick verweile doch, du bist so schrecklich“ scheint da eingefordert. Und bei Rancière wird das Plädoyer für diese Ästhetik des Hässlichen noch um eine Absage an den Plot, an die Idee der Erzählung verlängert. Von Film wird demnach die insistente Darstellung prekärer Lebensumstände erwartet, die der Ausbreitung von Situationen den Vorrang gibt.

Ein klares Statement für das Dokumentarische gegen das so genannte Fiktionale im Film, ein Statement, das als ästhetische Position weder besonders neu noch eine Einzelmeinung ist, weil es seit mehr als fünfzig Jahren zur Standardausstattung des engagierten Filmbetrachters gehört. Auch das Manifest-Heft von Revolver wimmelte von Bekenntnissen zu einem persönlichen, eigenen, echt gefühlten oder authentischen Film, zu einem methodischen Realismus, der sich seit den Publikationen der Nouvelle Vague mit Bezug auf den italienischen Neorealismus, in den Ansätzen der filmkritik oder PR-Kampagnen wie dem Dogmafilm regelmäßig erneuert.

Dagegen ist auch wenig einzuwenden. Wer stellt sich schon hin und erklärt, die eigenen Filme wollten nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben? Abgesehen davon, dass die Pose einer solchen Aussage den Inhalt sofort konterkarieren würde: Die Forderung, der Film soll mit der Wirklichkeit zu tun haben, ist trivial. Bazins wichtige Grunderkenntnis war, dass es zu den onthologischen Bedingungen des Films gehört, ein Abbild von etwas zu sein, das man gewöhnlich als Realität bezeichnet. Das gilt sogar noch für den Animationsfilm und die dort hergestellten Welten, die stets verzerrte Kopien der einzig wirklichen sind. So sehr Bazins Feststellung einen nicht abschüttelbaren Bezug des Films auf das abgebildete Andere des Lebens herstellt, so sehr setzt er damit auch die Nichtidentität. Als Kunstform, die freizügig mit diesen Abbildern operiert, bleibt Film stets realitätsfremd oder anders gesagt, enthält Realität nur verfremdet. Einem Film fehlenden Realismus vorzuwerfen, ist demnach in erster Linie ein politisches Argument.

Kriterium für Realismus ist nach Rancière/Nord die Dauer von Situationen. Eins der filmischen Mittel der Wahl ist seit jeher die Plansequenz, die lange, ununterschnittene Einstellung. Doch ist deshalb der Schlagabtausch von Julie Delpy und Ethan Hawk in Before Midnight realistischer als andere Gesprächssituationen? Ist Russian Ark demnach ein guter Film? Plansequenzen wie am Anfang von Touch Of Evil oder Hanekes Code – inconnu sind die artifiziellsten Filmerzeugnisse, die man sich denken kann und eher Beispiele für die strenge Durchstrukturierung einer Realitätsfiktion. Setzt man gegen diese Szenen, „die verketten und immer schon zum Nächsten übergehen“ Szenen, in denen man einer Figur zusieht, wie sie sich beide Schuhe zuschnürt, sich einen Mantel anzieht und dann erst die Wohnung verlässt, wie sie sich vom Wasseraufsetzen bis zum Nachfüllen des Filters Kaffee kocht, so ist der Gewinn sicher die Geste, mit der der Zuschauer gewissermaßen an den Tisch gebeten wird. Er soll in eine Situation verwickelt werden, die ihm bekannt ist, um mit Fremdem zu sympathisieren. Im schlechtesten Fall geht diese Operation der Dauer auf Kosten der Innenspannung einer Szene, anders formuliert: Ich sehe solche Szenen, spüre den Zweck – und oft genug nur den – und bin verstimmt. Nur selten gelangen solche Einstellungen wie die Schlussbilder von Johan van Keukens "De grote Vakantie" – gedreht als eigener Abgesang aufgrund der Krebserkrankung –, in denen man Schiffe auf dem Rhein im Gegenlicht glitzern sieht, zu einer das Abbild übersteigenden Bedeutung, dann aber auch, weil der durch den Film ausgebreitete Hintergrund stark genug ist, die Darstellung das Dargestellte transzendieren zu lassen.

Plansequenz ist gleichbedeutend mit Verzicht auf Montage. Gerade im Schnitt liegen aber Möglichkeiten, Situationen zu verlängern und durch Insistenz zu verstärken. Doch wo ist hier die Abgrenzung zu Verkettung und Übergang? Der Fluss, den der Schnitt künstlich herstellt, etabliert per se eine scheinbar logische Abfolge, gleichgültig, ob konfrontativ Achsensprünge, Orts- und Zeitwechsel oder vekettend Bildübergänge geschnitten werden. Sicher, wenn auf den Blick nach oben die Subjektive in die Baumkronen folgt, wenn mit Betreten des Hauses die Kamera von der Rückansicht von außen in die Frontalsicht der Hauptfigur von innen springt oder Gespräche als gestaffelte Zweier mit Frontalansicht beider Gesprächsteilnehmer aufgenommen werden und der Sprung in Schuss/Gegenschuss erfolgt, sobald sich die vordere Person umdreht, dann folgt das Schnitt-Konventionen, die für jeden Schnitt einen Auslöser brauchen, den Film als logische Kette von Einstellungen gliedern, in der Übergänge gefühlt unsichtbar sein sollen, obwohl die Mittel greifbar künstlich sind. Doch selbst, wer diese Konventionen unterläuft, wird nichts dagegen ausrichten können, dass die Abfolge der Einstellungen in einem Film als logisches Kontinuum wahrgenommen wird, selbst wenn der Bruch zum Stilprinzip erhoben wird. Und noch die stilisierteste, artifiziellste Auflösung einer Szene kann dem Bedürfnis folgen, sie besonders intensiv und damit in überhöhter Form realistisch darzustellen, gewissermaßen nach dem „Durchgang durch das Unendliche“ wie Kleist das in seinem Aufsatz über das Marionettentheater nennt.

Die Insistenz auf Situationen, die Dauer allein schafft keinen guten Film, genau so wenig wie das Vertrauen auf einen ausgefeilten Plot mit schnellen Wendungen. Die Situationen müssen stark und bedeutsam genug sein, um die Dauer tragen zu können und sie müssen überzeugend gestaltet sein, auch in ihrem Zusammenspiel. Auf der Berlinale gab es zahlreiche Beispiele, in denen das nicht gelang, zum Teil auch, weil die Filmemacher sich zu sehr auf die schiere Abbildung, die Wirkung des Bildes verlassen haben, zu wenig über die hinter diesen Bildern erzählte Geschichte nachgedacht haben. Und damit meine ich nicht das, was sich in zwei Sätzen pitchen lässt. So berechtigt die Unzufriedenheit mit am Reißbrett geplotteten Filmen ist, bleibt Film eine erzählerische Kunstform, die viele Mittel der Realitätsfiktion zur Verfügung hat, um den Zuschauer für das zu interessieren, was sie uns in der der Kunst eigenen Mischung aus Abbild und Konstruktion als Kette von Situationen ausbreitet. "Es gibt kein Richtiges im Falschen" so könnte man Adorno gegen Rancière aufstellen. Die im Feuilleton ausgebreiteten Dichotomien zeugen von filmpolitischen Lagerkämpfen, die mit der Tauglichkeit von Filmen nur wenig zu tun haben, denen die Kritik ein Korrektiv sein will. Ich bin jedenfalls für einen Realismus der starken Situationen, der das "gut Erzählte" nicht aus dem Blick verliert, für Filme, die sich der Dauer genau so bedienen wie der Elipse, des Bruchs, der Stilisierung und der Verkettung, um ihr Ziel zu erreichen. Wenn man das Gespür dafür nicht verliert, was man macht, wenn man es so macht, ist beim Filmemachen jedes Mittel recht.

Freitag, 15. Februar 2013

Vic et Flo ont vu un ours


Ein Interview mit Denis Côté war neulich in Revolver. Bislang hatte ich noch keinen seiner Filme gesehen. Schon deshalb hat mich „Vic et Flo ont vu un ours“ interessiert. Aus Kanada kamen zuletzt immer wieder ungewöhnliche frankophone Filme. Die Synopsis klang zwar nur mäßig interessant, aber der Titel ist witzig – allerdings nur auf Französisch. „Avoir vu le loup“, also den Wolf gesehen haben, heißt, man hatte zum ersten Mal Sex, hat seine Unschuld verloren. Und „être un peu ours“ – ein Satz der auch im Film fällt – heißt eigenbrötlerisch sein, „avoir ses ours“, seine Tage haben.


Und der Film macht da weiter, wenn er mit Klischees des Gangsterfilms spielt und sie mit kanadischer Hinterwälderalltagsschrägheit und einer lesbischen Liebesgeschichte kombiniert. Sicher kann man das Ende schlecht hergeleitet und übertrieben finden. Es dauert auch schlicht ein, zwei Einstellungen zu lang. Aber bis dahin wird ziemlich eindrücklich gezeigt, welche Schwierigkeiten eine fast sechzigjährige Ex-Sträflingin hat, ins Leben jenseits der Mauern zurückzufinden. Andererseits stolpert sie über skurrile Widerstände und Zwischenfälle, die den sozialrealistischen Gestus des Plots konterkarieren und eben in das überhöhte Finale münden, in dem Vic und Flo in für sie aufgestellten Bärenfallen verenden.


Dass hier mit Vic eine Frau mit dem Urteil lebenslänglich vorzeitig entlassen wird, ist bereits ein Signal. Es muss Mord gewesen sein, die Protagonistin lässt sich aber im Folgenden höchstens Ruppigkeiten gegen ihren paralysierten Onkel, die gemeinen Nachbarn oder den distanzlosen Sozialhelfer zu Schulden kommen. Ihre Freundin ist bi, der Sozialhelfer schwul – Vic erinnert ihn an seine Mutter – und da alle wichtigen Aktiva weiblich sind, ist auch die Böse eine Frau, mit der Flo eine Rechnung offen hat – welche, bleibt offen. Klar ist aber, wer einmal aus dem Blechnapf aß, die ist auch in Kanada und einem weitreichenden Sozialsystem nicht davor sicher, von dem eingeholt zu werden, vor dem sie in den Wald geflohen ist. Der Wald verspricht Menschenleere, Bären, Einsamkeit. Aber selbst in Kanada entkommt man der Gesellschaft nicht, weder der bürgerlichen fieser Nachbarn noch der kriminellen, die erst am Ende zeigt, dass sie sogar noch fieser sein kann.


Vieles wirkt in diesem Film eher gut gefunden als erfunden: die Gruppe Rennradfahrer, die aus dem Wald auftaucht und wieder verschwindet, das Elektroauto eines Golfplatzes, mit dem Vic und Flo durch die Gegend fahren, der Nachbarjunge mit seinem ferngesteuerten Helikopter, die Waldszenen, das Eisenbahnmuseum voller rostiger Lokomotiven, die trostlose Bar. Spätestens die Cartrennbahn weist darauf hin, dass hier mit System Orte und technische Embleme für gegenläufige (männliche) Lebensentwürfe versammelt sind, die in ihrer Disparatheit darauf hinweisen, wie disparat gesellschaftliche Zusammenhänge sind, wenn die Abgrenzung über technische Attribute erfolgt, die in dem Film wie Hundeduftmarken und immer als Aggressionen und Teil männlichen Revierverhaltens in Erscheinung treten. Altmodisch normal und friedlich scheint in diesem Panoptikum menschlicher Abgrenzungen, eigentlich nur die Ex-Gefangene leben zu wollen.

Sicher ist das nicht der vollendete Film des Jahres, aber ein Hinweis, wie man mit einfachen Mitteln jenseits der Dardennes und Ken Loach ein Sozialdrama entfalten kann, das noch die Zweifel am eigenen Genre reflektiert.


Revolver Heft 27



Ich habe dieses Mal völlig vergessen, das neue Heft von Revolver anzukündigen. Hiermit nachgeholt:

"Wo steht der Feind? Wenn das so einfach wäre. Auf zwei Gefahren können wir uns (mit Jean Améry) einigen: „Ordnung und Unordnung”. Über das Dazwischen müssen wir reden. Dieses Heft hat kein ausdrückliches Thema, und doch gibt es interessante Überschneidungen zwischen Marie Vermillard, Andrew Bujalski und Jan Schomburg zum Beispiel; Filmemacher, die – leicht im Ton, offen in der Form – an einem undogmatischen Kino arbeiten. Die alten Meister der Freiheit, Hartmut Bitomsky und Chris Marker, flankieren das Heft mit überraschenden Einsichten. Und auch Nicolai Albrecht passt in diese Reihe; in seinem Text geht es um Trance und Improvisation. In diesem Sinne: weiterlesen ... "

Inhalt: 
Revolver live! Marie Vermillard im Gespräch mit Ulrich Köhler
Mathilde Lesueur: Das Picknick in „Lila Lili”
Hartmut Bitomsky: Ästhetischer Widerstand
Revolver live! Andrew Bujalski im Gespräch mit Nicolas Wackerbarth
Nicolai Albrecht: Direkter Filme machen
Hartmut Bitomsky: Ein wahres Kino
Interview von Istvan Gyöngyösi: Jan Schomburg
Chris Marker: 2084


Dienstag, 12. Februar 2013

Holzwege

Die Vorliebe deutscher Filme für rätselhafte Rückenansichten, vor allem von Frauen, ist bekannt. Die auf der Berlinale neu vorgestellten Filme sind aus anderen Gründen unbefriedigend. Nina Hoss reitet in Gold schweigend und mit hölzernem Gesicht durch eine sehr hölzerne Landschaft, begleitet weitgehend von Chargen, die jeder wegen der allgemeinen Schweigsamkeit mit einem Selbstdarstellungsmonolog abgefrühstückt werden, kurz bevor sie auf die durchschaubarste und hölzernste „Einer-kam-durch“-Dramaturgie ins Jenseits befördert werden. Sehr viel Holz. Innenwelten werden in 1zu1-Aufsagern auf dem Tablett serviert, der Rest spielt sich weitgehend jenseits der Wahrnehmung des Zuschauers ab, der Nina Hoss immer wieder von links nach rechts oder rechts nach links durchs Bild reiten sieht.

In Halbschatten ist zwar die Gefühlslage klar und auch klar gespielt. Aber ein Film über die Langeweile und das Warten, der Handlung minimalisiert, hat ein anderes Problem: Die ausgeklügelten Blicke auf leere Räume bilden nur in der engen Koppelung an eine dramatisch aufgeladene Figur Seelenlandschaften ab. Und selbst wenn das gelingt, sind feste Raumbilder ähnlich wie Darstellungen des Langweilens ermüdend. Man freut sich jedes Mal auf die lebhaften Spielmomente, zu denen Anne Ratte-Polle eben, wie man dann sieht, sehr fähig ist. Eigentlich schade nach Unten, Mitte, Kinn.

Auch bei Pia Marais scheint der Neuling weniger gelungen als der Vorgänger, der von den schrägen Milieus lebte, durch die Jeanne Balibar gespült wurde. Layla Fourie stellt zwar schnell eine moralische Spannung her, ein – auch wieder im Dialog recht explizit ausgebreitetes – Spiel um Lüge, Wahrheit und Ehrlichkeit, aber für die Darstellung des inneren Zwiespalts der Hauptfigur, für den Widerstreit von Sorge ums Kind und schlechtem Gewissen fällt der Regisseurin vor allem die unverändert sorgenschwere Profilansicht von Rayna Campbell ein, das unbewegte Gesicht einer schweigenden Frau, die mit dem Auto durch die Nacht fährt.

In Konsequenz muss in diesem Film mal wieder ein Autounfall herhalten, um die Handlung in Gang zu bringen, eine ärgerliche Konstante deutscher Kinogeschichten der letzten zehn Jahre. Und als wäre das noch nicht genug, fügt der Zufall auch die restlichen Verknüpfungen der Figuren wie von Zauberhand zusammen: Ausgerechnet den Sohn des Unfallopfers muss ausgerechnet die Hauptfigur für eine Job-Bewerbung testen. Ausgerechnet der Sohn nimmt sie und ihr Kind mit zu sich nach Hause und zu seiner Mutter, die ausgerechnet in der Nacht, in der ihr Mann nach Kasinobesuch umkam, auch dort spielte. Zufälle wie die Zahlenreihen am Roulettetisch sind das nicht, eher potenzierte Unwahrscheinlichkeiten einer Abfolge von mehreren Nullen.

Diese hölzerne Anbahnung, die sich kein Fernsehkrimi leisten kann, ohne höhnisch niedergemacht zu werden, kommt natürlich als Drehbucheinfall erst in den Blick, wenn man den Figuren Gesten und Eigeninitiative in Richtung fremder Personen möglichst abschnürt, wenn man sie in sich selbst gefangen setzt und eine eher geleeartige innere Verfassung vorschreibt, die das Auto zum Marmeladenglas werden lässt. Das System der Hemmungen von emotionalen und aktiven Impulsen wird bei Pia Marais angesichts des Lügenthemas zwar thematisiert. Es lähmt die Figuren dieser Filme aber allesamt und verdonnert sie auf eine unverständliche Weigerung, sich verständlich zu machen.

Gut. Diese Art Filme hat noch nie auf vielschichtigen Dialog als realen Teil der menschlichen Welt gesetzt und ganz sicher nicht auf Witz. Bei Pia Marais wird Lüge entsprechend auch nicht wirklich als schillernde menschliche Grundkonstante vorgestellt, sondern in eine protestantische Betrachtung über Wahrheit und Lüge im moralischen Sinne eingebettet. Dass man trotz der zahlreichen nächtlichen Fahrten die Bedrohung spürt, die Layla Fourrie treibt, liegt sicher nur zum Teil an diesen moralischen Seiten der Erzählung. Eher an der ängstlich besorgten Beziehung der Mutter zum Kind, dessen Gesicht die Probleme bebildert. Die Schwächen der Konstruktion überschatten die Inszenierung jeder anderen sozialen Interaktion, insbesondere der Liebesszene, die erst funktioniert, wenn man die beiden, die sich da laut Drehbuch aneinander abarbeiten sollen, nicht mehr sieht.

Sowohl bei Thomas Arslan als auch bei Pia Marais ist ein Hang zur Vollständigkeit der filmischen Erzählung (ein langer Weg muss eben lang gezeigt werden), zur Vermeidung von Ellipsen und zur Verwendung langer, nicht unterschnittener Einstellungen, die eine Handlung vollständig auserzählen, stilbildend. Die dramaturgische Notwendigkeit all dieser Mittel ist nicht wirklich einzusehen, außer als Verstoß gegen die Zwänge von Witz, Pointe und Spannung. Das war mal als Kontrapunkt zum Unterhaltungskino gedacht. Der Schmerz und die Empörung angesichts solcher entsättigter Dramaturgie hat jedoch seine Spannkraft in den letzten Jahren durch Wiederholung ziemlich eingebüßt. Das Unbehagen gegenüber Konventionen, die diese Art Filmemachen selbst hervorgebracht hat und die heute gerne mit Berliner Schule verbunden werden, ist dem Versuch anzusehen, Genres anzuzapfen, in diesen beiden Fällen Western- und Spionage-Thriller. Doch hier zeigen die Filme, weil sie von den Konventionen trotzdem nicht wirklich lassen können, ihre größten Schwächen. Die Westernelemente sorgen bei Arslan für den ein oder anderen unfreiwilligen Witz. Goldbemalte Steine müssen gleich am Anfang als Nuggets herhalten, die von auf stumm gestellten Goldsuchern erstaunlich leicht gefunden werden. Und insbesondere der Shootout ist weder spannend, noch drastisch oder besonders realistisch, sondern in einer Häufung von Totalen, in denen die Duellanten sich allzu gerne abknallen lassen, einfach schlecht inszeniert.

Bei Pia Marais wird dagegen das Agentenrequisit Lügendetektor, der das Spiel um Lüge und Wahrheit rund um das Kasinogeschehen orchestriert, nur mäßig glaubwürdig eingeführt. Ein Vehikel, das am Ende seine Schuldigkeit getan hat und entsorgt wird. Hinter den Genre-Anleihen wird sichtbar, welches Muster diese Filme in erster Linie prägt: das Road-Movie in einer besonders entschleunigten Variante.

Im Mittelpunkt steht die Transition, die Bewegung von A nach B, die in dieser zurückgenommenen Form Filme auf die Dramaturgie von S-Bahn-Fahrten verdonnert und vor allem den banalen Satz illustriert, dass der Mensch ein Reisender ist. Bei Pia Marais liegen die Beweggründe der Hauptfigur für diese Reisen und die jeweiligen Ziele zwar in der Zweckmäßigkeit des Geldverdienens offen und bei Thomas Arslan geht es um das Erreichen des Ziels Klondike. Trotzdem sind Wege als Wege nur mäßig interessant, wenn das, was unterwegs mit den Figuren geschieht, wie Haltestellen auf den Faden einer an sich gleichförmigen Fahrt gefädelt ist. Ein Weg für den deutschen Film ist das nicht.

Donnerstag, 7. Februar 2013

Pasolini und die Kineme

In dem kleinen unscheinbaren Aufsatz „Das Drehbuch, eine Struktur, die eine andere sein will“ hat Pasolini 1965 die erstaunliche Behauptung aufgestellt, dass ein Drehbuch, vor seiner Umsetzung in einen Film betrachtet, als „autonome Struktur“, nicht nur bereits das Versprechen auf einen zu drehenden Film enthält, sondern aufgrund seiner Struktur den Film selbst. Die Zeichenstruktur des Drehbuchs enthält demnach bereits visible Elemente, „Kineme“, wie Pasolini das in Anlehnung an die strukturalistische Theorie des Phonems genannt hat. Deren Aufscheinen ist abhängig von der speziellen Technik des Drehbuchschreibens. Charakteristikum des Drehbuchs ist, dass es Durchgangssyndrom des Films selbst ist und zwar als „Übergang vom literarischen zum kinematografischen Stadium“, was sich bereits in seiner autonomen Struktur und in den Abweichungen vom Literarischen, manifestiert.

Als „Struktur die eine andere sein will“ zielt das Drehbuch, anders als Literatur, die ihren Zweck in sich selbst findet, auf den nach ihm zu drehenden Film. Man kann einwenden, dass Theaterstücke auch nur geschrieben werden, um vor Publikum aufgeführt zu werden, aber die Umsetzung des geschriebenen Textes in der Theateraufführung folgt nicht nur Mustern der oralen Tradition des lauten Lesens, sondern zielt vor allem nicht auf eine andersartige Struktur als Ergebnis der Aufführung. Jede Aufführung ist wieder anders und gemeinsam ist allen die Struktur des Stücks. Der Film tritt aber als Struktur durch die Verfilmung an die Stelle des Drehbuchs, ersetzt es und enthält eben ein Mehr, das weit über die Freiheiten von Inszenierung und Szenenbild im Theater hinausgeht. Und das gilt auch für Filme, die strikt das zugrundeliegende Drehbuch umsetzen.

In der Frühzeit des Tonfilms war das Theater der Feind, der den Film hinter die strukturellen Errungenschaften des Stummfilms zurückfallen ließ. Von dieser Ablehnung, die auch die Nouvelle Vague noch antrieb, ist ein starker Reflex geblieben. Es gibt zwar kein Gesetz, das Theaterstücke als Vorlage von Filmen verbietet. Viele Theaterstückverfilmungen bleiben trotzdem unbefriedigend, weil die Bestimmung der Besonderheit immer eine der Differenz zur Vorlage ist, der Film also zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Aufführungen tritt, statt ganz bei sich zu bleiben. Dazu kommt, dass Theaterstücke deutlich mehr auf Dialog setzen müssen, als das im Film erforderlich ist. Screwball-Comedies kann man zwar gut auf die Bühne bringen, in letzter Zeit wurde das sogar mit Kyszlowskis Dekalog versucht, Stummfilme widersetzten sich jedoch der Bühneninszenierung, widersprachen ihr sogar prinzipiell, nicht im Sinn der Pantomime sondern des Sprechens der gezeigten Orte und der sich darin bewegenden Menschen. Hier zeigt sich, dass der Mehrwert des Films entschieden mit den speziellen Möglichkeiten der Kamera und des Schnitts zusammenhängt, wohingegend das Verhältnis Zuschauer/Bühne sich nur bedingt flexibilisieren lässt, auch im Kino übrigens, in der sogar die Interaktion in Richtung Leinwand ausgeschlossen ist. Film kann aber durch die Kamera den Abstand zum Zuschauer beliebig variieren, kann Zeitsprünge vornehmen, Orte und Zeiten durch den Schnitt wechseln. Manches davon kann auch der Theatertext, aber die Wechsel sind, weil die Materie des Theaters reale Menschen auf realen Bühnen sind, weder Achsensprünge noch Ellipsen.

Die Generation der Filmemacher, die im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts geboren wurde, sah ohnehin eher im Roman ein dem Film verwandtes Genre. Pasolini selbst hat seine Filmkarriere wie diverse Nouvelle-Vague-Regisseure zwar als Drehbuchautor begonnen, seinen ersten Film „Accatone“ aber nach dem gleichnamigen eigenen Roman gedreht und später diverse Romane adaptiert. Visconti und Rohmer haben sich zeitlebens als gescheiterte Romanautoren gesehen, Antonioni, René Clair und viele andere haben neben ihrer Filmarbeit Kurzgeschichten geschrieben. Bei keinem Filmemacher gibt es so viele Romane im Bild wie bei Godard, der in Randbemerkungen immer wieder bedauert hat, nie Prosa geschrieben zu haben. Die Feinde waren die umgeschulten Theaterautoren der Boulevard-Theater, nicht die Romanciers. Die neorealistische Schreibweise der von den Filmemachern bewunderten Autoren wie Faulkner ist wiederum ohne die Einflüsse des Films nicht denkbar: Neutrale Erzählperspektive, Häufung der Beschreibungen von Alltags-„Petitessen“, die in der französischen Romantheorie seit Diderot als Kennzeichen realistischer Darstellung gefordert werden, das Eindringen von Umgangssprache in die Romandialoge, all das sind Indizien für in Prosa kopierte Techniken der Filmerzählung, die die narrativen Strukturen der Romane unterwandern, oder zumindest ein gleichlaufendes Interesse an einer Wirklichkeit, die als Widerstand gegen ästhetische Überformung ernst genommen wird. Der Begriff „cinéma d’auteur“ zeigt in seinem Pathos sehr genau, welcher Stellenwert dem Autor als Erfinder einer quasi romanhaften narrativen Struktur zugedacht war.

Pasolini stellt in seinem Aufsatz allerdings die Behauptung auf, dass die filmischen Elemente dem Drehbuchtext über die Bedeutungsseite der Drehbuchzeichen, die Kineme, im Unterschied zur Prosa immanent sind. Der Drehbuchtext ist Teil der Schriftkultur, andererseits aber Teil der Filmsprache. Zwar ist das Drehbuch nicht in der Lage, die reale Welt, die im Film abgebildet werden wird, zu antizipieren, aber die filmische Bedeutung dessen, was gezeigt werden wird, können die Textpassagen des Drehbuchs gleichwohl schon vollständig ausbilden, weil der Text dynamisch auf den nach ihm herzustellenden Film hinzielt und Worte strikt in diesem Sinne verwendet. Es geht Pasolini nicht um die ohnehin fragwürdige Theorie einer möglichen Übertragung innerer Bilder in Text, egal wie wichtig der entsprechende Versuch für Regisseure sein mag, die ihre eigenen Drehbücher verfilmen. In diesem Text geht es auch nicht um die gesellschaftliche Relevanz der Filmkunst, obwohl die Wirkmöglichkeit des Drehbuchtextes vermutlich eher in diese Richtung gelesen werden muss.

Wenn in der Regieanweisung bestimmte Blicke der Kamera auf die Sachwelt oder Darsteller vorgesehen werden, geschieht das in Sätzen, die nur oberflächlich gesehen Teil der sonst geschriebenen Sprache sind, für den – eingeweihten – Leser aber erschließt sich eine filmische Bedeutung, die jenseits eines literarischen Symbolismus liegt. Kamerawinkel, Einstellungsgrößen, bestimmte vorgedachte Bewegungen sowohl der Kamera als auch der Darsteller sind bereits im Drehbuch bedeutsames Vokabular einer eigenständigen Filmsprache. Und sie zählen zur späteren Struktur des Films und dem, was als seine Bedeutung gelesen wird. Der Versuch, in Dreharbeiten die adäquaten bewegten Bilder zu einem Drehbuch zu finden, ist demnach nicht Ausweis einer sklavischen Abhängigkeit von einer besonderen Form von Prosa, sondern die beste Möglichkeit, vorbedacht filmische Bedeutung überhaupt entstehen zu lassen. Und noch die Abweichung vom Drehbuch ist nach dieser Theorie Teil des Drehbuchs, wenn sich herausstellt, dass der Text des Drehbuchs das anvisierte Kinem eines dynamischen filmischen Ausdrucks zwar vorsieht, aber in den genannten Mitteln verfehlt. Man kann soweit gehen zu sagen, dass nach Pasolinis Überlegungen ohne eine Drehbuchstruktur, die auf einen nach ihr zu drehenden Film zielt, Improvisation Filmbedeutung schädigt. Erst als Widerstand gegen ein Buch kann sie zur Erfüllung des Angedachten beitragen. Alles andere ist im Sinne einer strukturalistischen Theorie der Bedeutung beliebig.

Die Theorie des Kinems scheint der Versuch gewesen zu sein, der Theorie eines „cinema di poesia“, dem Kernstück von Pasolinis Theorie eines cinematografischen Lyrismus einen quasi wissenschaftlichen Unterbau zu verschaffen. Im Unterschied zur poetischen Lesart des Kinos hat nie jemand, auch Pasolini nicht, die Theorie der Kineme weiter verfolgt. Überlegungen wie die Pasolinis sind eher später in Theorien zum Begriff der Filmsprache aufgegangen, die den Begriff der Sprache allerdings mehr in Analogiebildung verwenden. Meines Wissens nach ist aber nie jemand so weit gegangen, den Drehbuchtext selbst bereits als Teil der Filmsprache zu interpretieren. Die Erfahrung vieler Filmemacher war offenbar mit dem selbstverständlichen Autorengestus Pasolinis nicht kompatibel, der hier eigentlich das theoretisch zu begründen versucht hat, was der Begriff des Autorenfilmers mal hat meinen sollen.