Montag, 19. Oktober 2015

Gabel links, Messer rechts

Die Zivilgesellschaft scheint sich um die Entgleisungen der offenen Demokratie herum zu solidarisieren. So kann man sicher die absolute Mehrheit für die am Samstag niedergestochene Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker verstehen. "Ein Angriff auf uns alle", der Satz ist in einer solchen Situation billig zu haben. Die Allianz der drei Parteien hinter Reker hätte ihr aber auch ohne die Messerattacke vermutlich das Bürgermeisteramt beschert.

Bedenklich ist der politische Zusammenhang der Attacke allemal. Die Tat richtete sich gegen die vermeintlich liberale Flüchtlingspolitik der Stadt Köln, für die Reker als Sozialdezernentin des aktuellen rot-grünen regierten Stadtrats steht. Sie erfolgte aber auch zwei Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dass die geplante Demonstration der Hooligans gegen Salafismus, die letztes Jahr zu Krawallen und einer Straßenschlacht mit der Polizei geführt hatte, nicht abgesagt werden darf, wie die Polizei gerne gehabt hätte.

Schon seit einiger Zeit gibt es auch in Köln eine gärende rechte Szene, die gegen den Bau der neuen Moschee mobil machte, bei Unterschriftenaktionen gegen das jüdische Museum und eben bei der HoGeSa-Demo in Erscheinung trat, flankiert von einer inzwischen im Stadtrat dank gefallener 5%-Hürde vertretenen ProKöln Abordnung.

War der Aufschwung rechter Gruppierungen in der Weimarer Republik immer leicht zu befeuern aus der Schlappe eines verlorenen Weltkriegs, der "Schmach von Versailles", einer brutalen Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Abstiegsängsten großer Teile der Bevölkerung, so ist das Potential sozialer Benachteiligungen und in nationale Demütigungen umzumünzender Umstrukturierungen der EU heute gewiss geringer. Aber es ist nach wie vor ein Potential, wie man auch in anderen EU-Ländern sieht. Und man sollte die immer mal genannte "Schere zwischen arm und reich" als Winkel, in dem extreme Politik und Widerstand gegen die Demokratie entsteht, nicht unterschätzen.

Erstaunlich ist trotzdem, wie rabiat die Reaktion zum Beispiel auf Großzügigkeiten der Bundeskanzlerin sind. Zwar waren auch in den entsprechenden Jahren des Wirtschaftsbooms die Hälfte der deutschen Bevölkerung gegen die Anwerbung von vier Millionen "Gastarbeitern" und bereits in den vergleichbaren Wellen der Immigration anlässlich des Jugoslawienkrieges waren die pogromartigen Übergriffe auf Flüchtlingsheime und Asylbewerber zahlreich. Seitdem wurden die Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern aber systematisch abgebaut – auch in Köln. Die aktuell genannte Zahl von 450.000 Asylanträgen 2015 ist zwar hoch, aber keineswegs singulär angesichts von 4 Millionen Migranten jährlich in der EU. Und sie steht der beunruhigenden Zahl von jetzt schon 500 Übergriffen auf Flüchtlingsheime, Asylunterkünfte und einzelnen Personen gegenüber.

Von den Zielländern der hiesigen Emigration wird gleichzeitig erwartet, dass sie jedes Jahr etwa 140.000 Deutsche aufnehmen. Das Fremde war schon in Zeiten der Schlagermusik nur dann gewünscht, wenn es sexy war und gut von fremden Ländern sang. Wenke Myhre, Roberto Blanco und Nana Mouskouri durften und mussten sogar Ausländer sein. Ein Ausreiseversprechen für den deutschen Exotismus, kein Einreiseversprechen für in Tunis geborene Südamerikaner oder Griechen.

Mindestens 200.000 Verfolgte emigrierten während des Nationalsozialismus und noch heute kann man den Aufnahmeländern für ihre "Kapazitäten" dankbar sein. Die humanitäre Idee der Aufnahme Verfolgter, die sich als Konsequenz unter anderem daraus in unserem Grundgesetz manifestiert, ist aber offenbar in die Defensive geraten. Die Formulierung einer Krise ist immer ein politisches Instrument, das drastisches, gerne auch an demokratischen Instanzen vorbei zu vollziehendes Handeln erfordert. Die Berichterstattung setzt einerseits  auf die Erkenntnis, dass zu jedem Flüchtling das Schicksal einer besonderen Verfolgung gehört – weil ja niemand freiwillig sein Land verlässt. Der Begriff der "Flüchtlingskrise" in seiner Doppeldeutigkeit, den von Bild bis Tagesschau alle inzwischen verwenden, als wäre Deutschland der eigentliche Kriegsschauplatz und nicht Syrien, setzt andererseits gegen die menschlichen Schicksale Zahlen, Kapazitäten, Zäune, Korridore und Auffanglager und tendenziell immer die Botschaft: Wir können nicht mehr. Das Boot ist voll. Und beides lenkt von den eigentlichen Krisen ab, wie sie Navid Kermani gestern benannte.

Bei allen menschlichen Schicksalen an der ungarischen Grenze war es auch der ARD-Tagesschau zu Beginn des Exodus über den Balkan eine ganze Woche nicht eine Meldung wert, was in Syrien aktuell geschieht, wie die Blockade der verschiedenen Interessen jede klare Perspektive für das Land verhindert. Die zahlreichen Krisenherde in Afrika und bis nach Afghanistan, wo die Interventionen und Rückzüge westlicher Militärs und Wirtschaftsinteressen unklare staatliche Gebilde hinterlassen haben, schaffen es nicht, die Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden, die heutzutage nachrichtentechnisch die EU-Grenze darstellt. Der Putsch in Burkina-Faso entfiel in der Tagesschau sogar ganz. Keine Krise. Als müsste sich das arme reizüberflutete Europa gegen die Schrecknisse außerhalb blind stellen, um mit ihnen klarzukommen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich an unserer Wahrnehmung etwas ändert, wenn Bürgermeisterkandidatinnen "vor unserer Haustür" niedergestochen werden.

Wir können auch anders


Kurzes Abschlussstatement zu der Veranstaltung des VDD anlässlich der Cologne Conference 2015 

„Wir können auch anders!“ – Erzähltraditionen im deutschen Film zwischen gestern und morgen

Unter diesem Titel trafen sich auf der Cologne Conference Filmemacher, Autoren, Redakteure und Dramaturgen, um sich ein Bild davon zu machen, wie sich Erzählformen und -genres im deutschen Film nach 1945 entwickelt haben.

Bislang gehörte es zu den unhinterfragten Gegebenheiten der Geschichte der deutschen Erzähltradition im Film, dass vor allem historische Brüche das Geschehen bestimmen: das Oberhausener Manifest als Apokalypse der Adenauer Ära, der deutsche Herbst, der Beginn der Kohl-Ära, die Wiedervereinigung.

Bei genauerer Betrachtung liegen die Schnitte und Brüche aber nie so, wie sich das Epochendenken die Verhältnisse wünscht, wenn es überhaupt diese Brüche je außerhalb der Manifeste und Festlegung von „Tendenzen“ gegeben hat: Die Bedingung des Nachkriegsfilms war die Kontinuität über die Nazizeit hinaus. Filmemacher wie Käutner haben ihre besten Filme vielleicht vor den Zeiten der Bundesrepublik gedreht, jedoch keineswegs ihre letzten. Wie Bloch gesagt hätte, „leider“ sind nicht die politisch korrektesten Umstände die beste Garantie für gute Filme.

Papas Kino hat nach der Totsagung in Oberhausen bis in die siebziger Jahre wunderbar als Unterhaltungskino weiterbestanden und Filmemacher, die durch Besetzung einzelner Schauspieler mit dem geschmähten Kino sympathisierten, wurden abgestraft – Peter Schamoni etwa für Willi Birgel in „Schonzeit für Füchse“.

Die letzten Jahre der Adenauer-Ära waren, was die Experimente mit neuen filmischen Formen anbelangte, wesentlich fruchtbarer, als die Theorie des politisch motivierten Epochenwechsels nahelegt. Vielleicht inspiriert durch die Debuts der Nouvelle-Vague-Autoren oder die italienischen Parallelen entstanden mit „Die Halbstarken“, „Playgirl“, „Mädchen, Mädchen“, „48 Stunden von Acapulco“, „Nicht versöhnt“, „Abschied von gestern“, „Zur Sache Schätzchen“, um nur einige heterogene Filme zu nennen, in wenigen Jahren eine Reihe von schroffen Filmgewächsen, die Hans C. Blumenberg als „kleine dreckige Filme“ später immer gegen die meinungsbildenden Großproduktionen von Kluge, Fassbinder, Herzog und Schlöndorff verteidigt hat.

Viele dieser schroffen Jungregisseure von 1966 haben über 1970 hinaus ihren Stil nicht weiterentwickeln können. Viele wurden wegen der Freizügigkeit und Radikalität in Inhalt und Form in Grund und Boden verrissen, bevor die Einflüsse von APO und Flower Power das Klima veränderten. Roger Fritz kam bei der Veranstaltung zu diesem Thema zu Wort. Die Diskussion mit Roland Zag bewies: Noch immer ist offen, ob seine Erzählexperimente als gewaltsame Stunde Null der Dramaturgie zu verstehen sind, die von rebellischen Söhnen und Töchtern alter Nazis ausgerufen wurde oder eher als kalkulierte kühle Antidramaturgie gegen das etablierte Unterhaltungskino.

Dominik Graf brach eine Lanze für die, die nach ihren Teilerfolgen in Deutschland ihr Glück im Italowestern, in Mafiafilmen und anderen B-Movie-Genres gesucht haben. Heute wäre die Präsenz deutscher Schauspieler und Regisseure in Italien nicht vorstellbar. Das Fazit der Recherchen von Johannes Sieverts und Graf in ihrem Film „Verfluchte Liebe deutscher Film“: Diese B-Filme sind erstaunlicherweise meist noch zugänglich, aber schon kurz nach der Vorführung sind viele für immer in den Archiven verschwunden. Der deutsche Filmselbsthass hat auch hier viele Türen zugeschlagen.

Die Herstellung einer eigenen deutschen Filmgeschichte war bei fast allen Teilnehmern der Diskussionen die Voraussetzung für ihre Filmarbeit. Doris Dörrie fand über die Siebziger und Sechziger hinweg in den USA Billy Wilder und Ernst Lubitsch, überhaupt die ins Exil getriebenen oder ermordeten Filmemacher der Weimarer Zeit. Lubitsch ist in Deutschland immer noch viel zitiert aber auch vielfach unbekannt geblieben – eine späte Rache an den Emigrierten. Adolf Winkelmann dagegen fand „Zur Sache Schätzchen“ ärgerlich unpolitisch und suchte zwischen Schlöndorff und dem Heimatfilm einen Platz für eine neue Ruhrgebietskomödie, nachdem er keine Experimentalfilme mehr drehen wollte.

Anderthalb Generationen später: Dietrich Brüggemann setzt sich von der Berliner Schule ab, die ihrerseits gegen die Münchener Beziehungskomödie aufbegehrte und Kluge und Farocki als Schutzpatrone benannte. Bei Brüggemann und Schomburg offensichtlich: Für die Generation, die das Entstehen des Privatfernsehens nicht als Untergang der Welt erleben konnte, in der sie sozialisiert wurden, ist die Barriere zum Fernsehen spätestens gefallen, überhaupt ist die alte leidenschaftliche Diskussion darüber, was ein Fernsehfilm sei und was ein Kinofilm, kaum noch nachvollziehbar.

Doris Dörrie brachte mit ihrem Plädoyer für die Story, das Geschichtenerzählen und die absolute Verpflichtung, nicht zu langweilen, die interessanteste erzähltechnische und über mehrere Panels geführte Diskussion in Gang. Denn die heute jüngeren Filmemacher reagierten teils allergisch auf diese Forderungen, die zu linientreuen, aber erzählerisch langweiligen, dramaturgisch perfekten, aber uninspirierten Filmen geführt habe (Dominik Graf in seinem durchaus positiven Statement zu Tim Fehlbaum: „’Hell’ ist leider total überentwickelt worden. Seine Filme an der Uni waren besser“).

„Überentwicklung“ durch Dramaturgieworkshops und professionelle Geschichtenentwicklungsstrategien hat auch zur Folge, dass die kreativen Abweichungen es heute schwer haben sich durchzusetzen. In den Fragen von Brüggemann und Schomburg: Was ist eine Geschichte? Was ist langweilig? Das kann doch alles sein! Brüggemann: „Künstlerische Freiheit muss man sich nehmen.“ Die Kategorien Story, Langeweile, Emotion und Relevanz sind keine objektiven Kategorien filmischer Stoffe. Das sind ästhetische Kampfbegriffe, die zur Waffe gegen das interessante Erzählen werden können. Nur wohin das Erzählen geht, scheint heute, so jedenfalls die jungen Filmemacher auf dem Podium, unklarer zu sein, als in Zeiten sicherer Feindschaften und Manifeste.

Der deutsche Film ist jedenfalls nach diversen Totschreibungen sehr lebendig, in mehreren parallel arbeitenden Generationen, mit großer Vielfalt der Einzelerscheinungen. Es blieb der etwas ratlose Wunsch, dass nicht nur das Publikum im Ausland, sondern auch das deutsche das bemerkt.

Marcus Seibert