Donnerstag, 16. Dezember 2010

Revolver Heft 23

Inhalt:
Interviews mit Claire Denis, Miguel Gomes, den Brüdern Dardennes (Revolver live!), Lutz Dammbeck, Matthew Porterfield.

Zweiter Teil des Frankreich-Schwerpunkts, der Frankreich nur noch vom Rand her beleuchtet. Claire Denis erzählt über die Effekte des Kolonialismus in Afrika, die Dardennes über das Filmemachen als Brudergespann.

Französischer Film

Ein Polizist reißt die Arme hoch, aus der Uniform sticht ein dritter Arm mit Pistole. Nonnen fahren im aberwitzigen Tempo mit einer Ente um die Kurve einer Küstenstraße, Regenschirme verhaken sich, ein Mann mit Pfeife stakelt ungelenk über einen Tennisplatz.

Mein Frankreich bestand anfangs ganz aus solchen sommerlichen Filmbildern. Die Sprache gab es in den Dörfern hinter der Grenze. Man kam mit dem Fahrrad hin. Sie hießen La Calamine, Plombières und Aubel, heruntergekommene wallonische Minendörfer mit grauen Bruchsteinhäusern. Dazwischen endlose, gleichförmig bebaute Landstraßen: verklinkerte Einfamilienhäuser mit Walmdächern, kupfernen Türgriffen mit Sonnensymbolen und englischen Vorgärten. Hohe Arbeitslosigkeit und gelangweilte Kühen auf wilden Schrottplätzen. Belgien. Frankreich war irgendwo dahinter.

Irgendwann hatte ich dann einen Brieffreund. Meine Französischlehrerin hatte darauf bestanden. Freunde aus ihrer Heimatstadt. Die war ein umbauter Golfplatz am Meer. Den alten Ortskern, das Fischerdorf rechts am Strand hatte mein Brieffreund noch nie betreten. Mein Spaziergang auf eigene Faust entsetzte die ganze Familie. Was da alles hätte passieren können. Der Brieffreund verachtete französische Filme. In seinem Fernseher sprachen amerikanische Filmhelden und natürlich Bud Spencer und Terrence Hill in unglaublicher Geschwindigkeit Französisch.

Im einzigen Aachener Programmkino, einem ehemaligen Pornokino, war ich Dauergast, nicht nur weil es bequeme Polstersessel und Tische mit Flaschenhaltern gab. Der Eintrittspreis für Schüler war deutlich ermäßigt und oft hatten wir die sechs Uhr Vorstellung für uns allein. Gezeigt wurden grundsätzlich Reihen, eine der ersten galt dem französischen Kino. Die Figuren sprachen Deutsch, ganz gegen die Lippenbewegungen. Ein Mann und eine Frau bei einem grotesken verbalen Zweikampf, der damit endet, dass sich der Mann keusch in einen Flokati einwickelt und neben sie ins Bett legt. Ein Sieg, der nach klarer Niederlage schmeckt. Meine Nacht mit Maud. Nach dieser Nacht ließ ich keinen französischen Film mehr aus.

In den 80ern waren französische Filme keineswegs sprödes Vergnügen für Cineasten. Die Autorenfilmer bewiesen, dass europäisches Kino erfolgreich und unterhaltsam zugleich sein kann, ohne seinen artifiziellen Anspruch aufzugeben. Die offensive Anlehnung an amerikanische Vorbilder fand ich, soweit sie mir überhaupt auffiel, eher störend. Belmondo gefiel mir, wenn ihm die Coolness misslang. Die Nähe zu italienischen Filmen war spürbarer. Immer gab es starke Frauen, an denen sich Männer in ungleichem Geschlechterkampf abarbeiteten. Vorwiegend waren das Filme von Männern, die offenbar über Ironie genug verfügten, Liebesbeziehungen als verlorene Machtspiele zu erzählen.
Die Frauen und Männer dieser Filme konnten reden und setzten Sprache und deren Unschärfe als Waffe, zur Täuschung ihrer Gesprächspartner ein. Dialog war hier nicht problematisches Beiwerk einer starken Bildlichkeit sondern gleichberechtigt. Literatur, wie sie in Frankreich immer schon näher am gesprochenen Wort war als in Deutschland. Bove, Queneau, aber schon Flaubert, Standhal.

Das Versprechen des Französischen Staates, der Welt ein großes europäisches Kino zu geben, ist wie überall sonst in Filmhochschulen und hochsubventionierte Blockbusterversuche kanalisiert worden. Die nationalen Arthouse-Produktionen sind nur noch selten und meist als Fernsehausstrahlungen bei ARTE im Ausland zu sehen sind. Auch in Frankreich ist es offenbar nicht einfach, sich gegen die Apparate zu behaupten. Eric Rohmer, der dieses Jahr gestorben ist, hat für keinen seiner Filme Fördergelder bekommen. Seine letzten drei Filme kamen auch nicht mehr ins deutsche Kino. Nicht einmal als Nachruf. Eine abgelöste Generation, kein untergegangenes Genre, keine verschüttete Kinoszene. Neues zeigt sich neu und unverhofft. Und manchmal braucht es da auch heute den Umweg über den Dokumentarfilm oder über Randzonen, wie zum Beispiel Nordafrika oder das französisch-sprachige Belgien.

Freitag, 10. Dezember 2010

The reckless moment (1949)

Ein merkwürdiger Titel für diesen Film, dem seine unschuldige Familienstimmung schon früh im ersten Akt verloren geht und der ab dem ersten tödlichen Unfall unter einer Art ungutem Wiederholungszwang zu stehen scheint. Alle wichtigen Ereignisse passieren gedoppelt, als ob die Drehbuchtäter an den Schauplatz hätten zurückkehren müssen: Zweimal stirbt ein Unsympath im Bootsschuppen, zweimal wird der Mord erfolgreich vertuscht. Zweimal fährt die Hauptfigur zur Klärung dringender Angelegenheiten nach Los Angeles und kommt unverrichteter Dinge zurück. Am Anfang telefoniert sie mit ihrem Ehemann, erfährt, dass er überraschend nicht über Weihnachten zuhause sein kann. Und am Ende ein zweites Telefonat. Er erkundigt sich nach seiner Familie und erfährt – nichts. Zumindest nicht von der Filmhandlung. Ansonsten wird endlos von der weiblichen Hauptfigur, einer ansonsten amerikanischen Bilderbuchmutter, geraucht und telefoniert.

Wiederholungen sind jenseits von Komödien Abschwächungen. Das von ihnen provozierte Gefühl, Bekanntem zu begegnen, ist in der Musiktheorie sogar lange Zeit so diskutiert worden, dass Wiederholungen, wie sie in Zeiten der Leitmotivik überbordend verwendet wurden, aus der Kompositionslehre möglichst zu verbannen waren und höchstens in der Wagnerischen Form der ewigen Variation noch Duldung fanden. In der Filmmusik ist die Idee des Leitmotivs nie wirklich in Frage gestellt worden. Und auch dramaturgisch gehört sie zum festen Repertoire. In der Anbahnung stärken Wiederholungen beim Zuschauer die Vorausahnung, schon zu wissen, was passieren wird. Damit kann man spielen. So bestehen die Überraschungen in diesem Film auch weniger in den wiederholten Ereignissen als in der unerwarteten Weiterführung oder Variation in der Wiederholung. Der zweite Todesfall im Bootsschuppen gipfelt im Unfalltod des Helden, der den von ihm Ermordeten beseitigen will. Auch wenn die poetische Gerechtigkeit hier die krude Tat per Autounfall sühnt. Es bleibt diesem Film eine Vorliebe für die Totschläger und Mörder eigen. Sie werden als moralisch integre Figuren gezeigt, die aus dem Familienkontext erwachsen oder ihn respektieren und schützen. Als ob im Nachhinein symbolisch der militärische Einsatz gegen die Nazis als Schutz der amerikanischen Familie hätte gerechtfertigt werden sollen – der abwesende Ehemann weilt gerade in Berlin. Auch das ein Wiederholungszwang.

Freitag, 19. Februar 2010

Waisenkinder

Die Welt der Kinderfilme ist bevölkert mit elternlosen Helden-Figuren. In Ice Age oder Findet Nemo setzt der Tod der Mutter den Abenteuerfilm als Rückkehr zur Restfamilie in Bewegung, die bei Findet Nemo gleichzeitig Lehrgedicht für den bis dahin pädagogisch unterbelichteten Vater ist. Überhaupt scheint Mutterlosigkeit ein wichtiges Kennzeichen der Heldenfiguren von Aschenputtel bis Pippi Langstrumpf zu sein.

Man könnte meinen, die Welt der Kindergeschichten hätte ein Problem mit Frauen, die nur in Gestalt von Stiefmüttern zugelassen scheinen. Aber das Phänomen ist wohl eher eine Folge der Dramaturgie, nach der zum Heldentum die Besonderung und Entwurzelung gehört, die in ihrer extremsten, sofort überzeugenden Form auch heute noch Mutterlosigkeit heißt. Auch wenn die Zahl der sich um ihre Kinder kümmernden Väter zugenommen haben soll, man spricht immer noch von abwesenden Vätern, die entweder viel oder wochentags in einer anderen Stadt arbeiten, sodass sie ihre Kinder nicht oder nur in Randzeiten sehen. Wochenendväter, allein erziehende Mütter, Patchworkfamilien, bei denen die Kinder meist bei ihren Müttern und Stiefvätern leben.

In den Wunschphantasien der Märchen und Kindergeschichten wird die Rückkehr des kindlichen Helden zum Vater, aber auch die Rückkehr des Vaters zum kindlichen Helden als Erfolgsgeschichte mit glücklichem Ausgang inszeniert, gegenläufig zu den wahrscheinlichen Biografien. Die wahren Heiligenlegenden von Moses über Gregorius bis hin zu Peter Pan und Mowgli kennen jedoch den elternlosen Helden, wie er heute in der Babyklappe abgegeben oder zur Adoption freigegeben würde, als Findelkind im Bastkorb, im Schilf, auf Kirchentreppen oder auf feudalen Landsitzen. Einmal elternlos eingeführt, sind diese Helden völlig frei vom Balast psychologischer Determination, den das Zusammenleben mit ihren Erzeugern nach sich zieht, und können den aberwitzigsten Lebensumständen ausgesetzt werden, durch die hindurch sie aus sich selbst heraus und mit Freundeshilfe ihre besondere Bestimmung finden.

Noch einmal Disney: Es ist schon erstaunlich, was 1967, im Vollbewusstsein des Vietnamkriegs, aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch wurde. Was bei Kipling noch als magisch-animistischer Kitsch aufgebaut wurde, um den asiatischen Dschungel als eine Utopie zu beschwören, unter dessen Gesetz das Leben ohne Menschen schöner ist, wird in Hollywood zu militärischem Slapstick. Der Elefant Hati ist hier nicht der weise Älteste der bei Mondlicht tanzenden Tiere, die das Gedächtnis des Urwalds verkörpern, sondern der selbstverliebt schneidige Anführer eines Haufens marschierender Trottel. Auch hier nur Männer. Baghira, Balou, King Louis, Shirkan, die Geier. Die geheime Mission der Hauptfiguren, die auch gut in Uniformen stecken könnten, ist, Mowgli zu der einzig offensiv weiblich, nämlich mit übergroßen Augen und überlangen Wimpern gezeichneten Figur des Films zu bringen: Zu dem Menschenmädchen, dass am Fluss Wasser schöpft. Der Entzug alles Weiblichen, der in Kiplings Roman nicht so angelegt ist, lässt am Ende die Begeisterung Mowglis besser verstehen, macht aber aus dem Dschungel ein Kampffeld undurchsichtiger männlicher Interessen, ein Kriegsgebiet, in dem Frauen nichts verloren haben und dessen Gefährlichkeit durch die Lustigkeit der Slapstick- und Gesangseinlagen, durch die Darstellung echter Kameradschaft kaschiert wird. Die Überlegenheit der Menschen zeigt sich hier, schon in der Romanvorlage, im Einsatz des Feuers, vor dem Mowgli nicht zurückschreckt, um seinen Freund vor dem bösen Tiger zu retten.

Dienstag, 16. Februar 2010

Memoiren

Es gibt in der Familie meiner Mutter eine Neigung, Memoiren zu schreiben. Überliefert sind nicht nur die Memoiren meines Urgroßvaters, der in trockenen Worten sein Leben als Landpfarrer beschrieben hat und Gemeindequerelen vor dem Leser ausbreitet, die heute weder nachvollziehbar noch besonders interessant sind. Mein Großvater hat die Memoirenschreiberei auf das Kapitel seines Lebens beschränkt, in dem er Pfarrer der bekennenden Kirche in Fehrbellin war. Diese Memoiren sind nicht viel mehr als zehn Seiten schwer und fassen knapp und in einer Manier, die an Herbert Wehners Erinnerungen erinnert, die wichtigen Momente dieser politischen Phase seines Lebens in exakter Chronologie zusammen.

Meine Tante hat Memoiren zu ihrer Kindheit als Tochter dieses Pfarrers geschrieben, sowie einen zweiten Band, der sich mit ihrem Werdegang als bildende Künstlerin befasst. So spannend der erste Band zu lesen ist, so wenig packt der zweite, weil man hier vor allem ein Gefühl nicht los wird, das schnell die Lektüre von Memoiren begleitet, sobald sie das Fahrwasser gesellschaftlich relevanter Themenbereiche verlassen, dass hier nämlich jemand sich ernster nimmt, als es noch witzig ist.

Sub specie aeternitatis ist ohnehin das Wenigste wert festgehalten zu werden. Außerhalb des Moments, in dem sich ein Leben abspielt, hat die spätere Erinnerung daran vielleicht dynastischen Wert, vielleicht Unterhaltungs- oder Lehrwert. Dann aber stellt sich bereits die Frage der Formung. Die in Memoiren festgehaltenen Erinnerungen an erlebte Ereignisse sind an sich nicht interessant und niedergelegt nur, sofern die Leserschaft sich ihnen geneigt zeigt, selbst wenn der Mensch, der die Ereignisse erlitt, das anders sieht. Das Bedürfnis Memoiren zu schreiben speist sich vermutlich aus dem Wunsch, nicht alles dem Vergessen zu überantworten, was man selbst einmal wichtig gefunden hat.

In gewisser Hinsicht ist das vermutlich grundsätzlich ein Impuls beim Veröffentlichen. Denn jede Form von Verschriftlichung ähnelt der fotografischen oder filmischen Aufnahme darin, dass es Vergangenes festhält, an Abgelebtes erinnert, auch wenn es erst gestern war. Selbst die Erfindung einer Erinnerung berührt die Leser nur, wenn sie zumindest erfolgreich mit Echtheit kokettiert. Unter jeder Überhöhung liest der Leser das heraus, was er an Bezüglichem lesen will. Das Erzähltempus ist nicht zufällig Präteritum, selbst das Präsens erzählter Texte ist immer schon ein verblasstes, vergangenes. Ein gedruckter oder zum Lesen bereit gestellter Text wurde immer vorher geschrieben.

Der Wunsch zu erinnern ist auch eine Form, Ordnung zu schaffen im eigenen Kopf und im günstigsten Fall auch für das so genannte kollektive Bewusstsein. Aber bei all dem Erinnerten und für die Ewigkeit Verwahrtem bleibt die Unwägbarkeit, was überdauert. Die Mumien sind mit ihrer Entdeckung bereits der Zersetzung schneller preis gegeben, als sie in den Jahrtausenden zuvor in ihren geschlossenen Sarkophagen waren. Texte sind ohnehin flüchtiger, sterben mit den Sprachen ab, wenn diese nicht mehr in dieser Form geläufig sind. Schon jetzt kann man beobachten, dass sich mancher Text aus dem zwanzigsten Jahrhundert nicht nur wegen der schlechten Papierqualität nach dem Krieg zersetzt hat und nicht mehr lesen lässt. Was geblieben ist, wird nicht unbedingt in den Formen aktualisiert, die sich der Autor seinerzeit gedacht hat. Eine Besonderheit der Erinnerung, die posthum zum Glück nicht schmerzt, aber auch zeigt, dass sie strikt gegenwartsbezogen ist.

Freitag, 29. Januar 2010

Revolver Heft 21


Das neue Revolverheft ist erschienen. Bei Lektüre der zwei Interviews, die ich in den Vorfassungen nicht gelesen hatte, fiel mir auf, wie unterschiedlich der Interviewstil sein kann. Ich fand immer die Dokumentarfilme von Eberhard Fechner beeindruckend, in denen der Interviewer scheinbar vollständig zurücktritt und nur durch die Antworten, durch Auswahl und Arrangement, also durch den Schnitt in Erscheinung tritt. Diese Zurücknahme hat auf jeden Fall den Effekt, dass sie die besondere Möglichkeit des Dokumentarfilms, Menschen zu zeigen und ihnen eine Stimme zu geben, die normalerweise nicht in Filmen auftreten, hervorkehrt und die Selbstdarstellung des Filmemachers auf die technische und dramaturgische Zubereitung beschränkt. Wenn man in dieser zurückgenommenen Form Interviews führt, kann das außerordentliche Ergebnisse haben. Heinrich Breloer, bei dem ich einmal als zweiter Regieassistent mitgewirkt habe, ist es als Interviewer immer wieder gelungen, erstaunliche Aussagen einzufangen, weil er sich dümmer gestellt hat, als er war. Das gibt dem Interviewpartner das Gefühl überlegen zu sein - die Voraussetzung für ungewollte Preisgabe. Es gibt aber auch Interviewpartner, die in einer solchen Situation enttäuscht sind. So ist mir das selbst zuletzt bei Hebe Kohlbrügge passiert, einer inzwischen über 90-jährigen niederländischen Protestantin, die zur bekennenden Kirche gehörte. Sie hatte sich offenbar auf eine engagierte Diskussion eingestellt und fand meine Fragen "oberflächlich." Möglicherweise habe ich aber auch nur aus Respekt vor ihrer Courage und der bevorstehenden theologischen Diskussion, zu der ich wenig beitragen könnte, vergessen, ihr genug zu schmeicheln. Aber auch Schmeichelei führt nicht zwangsläufig zu guten Antworten, wenn man zu Themen Fragen stellt, mit denen man sich nicht wirklich gut auskennt. Insbesondere aber bei Leuten, die an Schmeicheleien gewöhnt sind. Dazu zähle ich auch erfolgreiche Filmemacher. Bei Interviews mit ihnen kann es sinnvoll sein, erst einmal durch eigene Statements die Augenhöhe herzustellen, auf der das Gespräch stattfinden soll. Wer routiniert im Interviewgeben ist, braucht zwar möglicherweise nur ein Publikum als Fragensteller, erzählt dann aber auch nur, was er schon tausend Mal erzählt hat.

Dienstag, 12. Januar 2010

Alter Meister

Gestern ist Eric Rohmer kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag gestorben. Schon vor fünf Jahren, als ich ihn interviewt habe, war er gebrechlich. Ein gebeugter alter Mann, der Mühe hatte zu laufen. Aber von klarem und unruhigen Verstand. Er sprach eruptiv, schnell und in langen Sequenzen, mit vielen Fülllauten, als könne er nicht erwarten, dass der nächste Satz möglichst bald kommt. Er saß an einem alten Schreibtisch zwischen Bücherstapeln und rutschte auf dem Stuhl hinundher. Das Quietschen war bei der Transkription mindestens so störend wie sein Gebiss, durch das die Wortkaskaden mehr genuschelt als gesprochen herauskamen.

Ausgerechnet gestern habe ich zusammen mit Franz Müller mein zweites Interview auf Französisch in Paris geführt. Im schicken Café Lutétia auf der kleineren der beiden Inseln. Agnes Jaoui und Jean-Pierre Bacri saßen uns gegenüber. Es war eine ähnliche Leidenschaft und Unruhe spürbar. Man sollte meinen, es macht einen großen Unterschied, ob die Gesprächspartner sich in einer Krise in der Mitte ihrer Karriere befinden, die ihnen schon einige Erfolge beschert hat oder ob sie, wie Rohmer seinerzeit, auf ein üppiges Lebenswerk zurückblicken können. Das war aber nicht der Fall. Rohmer, der sich hätte zurücklehnen können und sich im Glanz der eigenen Erfolge sonnen, war äußerst nervös, weil ich mit ihm über seinen Roman, den er mit 25 geschrieben hat, reden wollte. Ich wollte ihn davon überzeugen, den nicht als misslungen zu bewerten - wie er das jahrzehntelang getan hat - sondern als glückliche Vorstufe zu einigen seiner schönsten Filme.

Er hat mit diesem Buch, dessen Erstauflage er kurz nach Erscheinen 1947 selbst blockiert hat, jahrzehntelang gehadert. Erst vor zwei Jahren hat er die Neuauflage des Romans schließlich doch noch autorisiert. Mit einem Vorwort, das sich sehr an unser Gespräch anlehnt, was er mir gegenüber auch zugegeben hat. Aber er hat auch in dieser Zeit noch einmal einen Film gedreht und sich sehr darüber empört, dass die französische Filmförderung kein einziges seiner Projekte der letzten zwanzig Jahre gefördert hat, nur weil seine Arbeitsweise, die Tatsache, dass er ein fertiges und damit förderungswürdiges Drehbuch stets erst kurz vor den Dreharbeiten, jedenfalls deutlich nach Casting aller Rollen, abliefern konnte, den Kriterien der Förderung zuwider liefen.

Sein letzter Film mag nicht sein bester geworden sein. Trotzdem wünsche ich mir, auch für mich selbst, dass es mehr Filmemacher und Autoren gäbe, die eine solche Leidenschaft und intellektuelle Unruhe bewahren und im hohen Alter noch so wunderbare Filme drehen wie zum Beispiel "Conte d'autonne" oder der eigenwillige Kostümfilm "Le Duc et l'Anglaise."