Freitag, 17. April 2009

Buch der Katastrophen

In Ausnahmesituationen rücken die Menschen zusammen. Diese Binsenweisheit bringt bei Alora parlava Bellavista die Insassen eines Busses dazu, zu einer Notgemeinschaft zusammen zu wachsen, weil der Busfahrer, der die Streckenführung nicht kennt, falsch abbiegt. Schon wer bei heftigem Dauerregen joggen geht, erlebt, dass die wenigen Hundebesitzer, die bei dem Wetter unterwegs sind, freundlich grüßen. Es eint das Gefühl der Ausnahmesituation, die natürlich nur für den Ausnahme ist, der weiß, dass er gleich in eine trockene, geheizte Wohnung zurückkehren wird.

Auch bei Katastrophen ist man der Anteilnahme gewiss. Helfende tauchen auf, treten aus der Anonymität des alltäglichen Umgangs hervor oder erleichtern ihr Gewissen mit einer Spende an professionelle Hilfsorganisationen. Der Helfende ist ein besserer Mensch und in der Katastrophe wird das leicht gemacht. In strukturellen Katastrophen, dauerhafter Armut, Elend, Hunger, Unterdrückung, ist es wesentlich schwieriger, dieser bessere Mensch zu sein. Das verlangt moralische Hintergründe, die bei Hilfsbereitschaft im Katastrophenfall entbehrlich sind. Denn die ist eher ein Ritual der Ordnung in einer zur Unordnung tendierenden Welt. Die Bestie lässt sich nicht mehr erlegt nach Hause tragen, der Drache nicht mehr vom Ritter töten, aber der Abwehrzauber ist der gleiche, wenn man für Erdbebenopfer spendet oder obdachlosen Nachbarn ein Quartier gewährt. Der Einbruch des Chaos ins Gemütliche wird abgewehrt und damit auch über den Helfenden selbst eine Art Schutzformel verhängt, dass es ihn nicht erwischen möge.

Beckett spricht davon, dass das Absurde der Einbruch einer Störung in die Normalität ist. Craps Ausrutscher auf der Bananenschale. Um nichts ist in Becketts Anthropologie der Mensch so bemüht, wie um die Wiederherstellung der vertrauten Langeweile. Die Theorie, nach der dem Lachen über den Slapstick Grauen angesichts des Scheiterns beigemischt sei, ist an einer Stelle, wo man besser bei der Anthropologie bleibt, moraltheologisch. Das Lachen, das im Halse stecken bleibt ist immer pädagogisch induziert: Unernst ist die Vorstufe zur Hölle.

Doch dagegen ist die Komödie immun. In ihr gibt es keine Toten, noch nach dem brutalsten Niederschlag stehen die Helden unbeschadet auf. Die Comic-Figuren können bis zur Aufgabe ihrer Körperform malträtiert werden, am Ende sind sie wieder intakt. Sie haben zwar nichts gelernt, aber sie haben jede Katastrophe unbeschadet überstanden. Auch das ein Abwehrzauber.

Donnerstag, 16. April 2009

Schweigen

Die Abneigung gegen Geschwätz im Film, in seiner Extremform der Versuch, ohne Dialoge zu erzählen, führt zur Aufwertung der paar Worte, die dann doch gesagt werden. Insbesondere in Situationen, die alltagssprachlich mit allerlei Halbfertigem und Nebensächlichem gefüllt würden, werden die wenigen dem Schweigen abgerungenen Sätze zu bedeutungsschweren Marmortafeln. Die Stilisierung scheint zwangsläufig zum Gegenteil von Leichtigkeit zu führen. Vielleicht wird aber auch einfach nur unterschätzt, was es heißt, gute Dialoge zu schreiben.

Das leere Blatt

Am Anfang steht das Schweigen, das weiße Blatt Papier. Erst dann kommt das Ur-teil. Durch das Auseinanderfallen der Gegensätze im Satz entsteht eine Teilung und damit Belebung der schweigenden, leeren Welt. Auf einmal ist sie erfüllt mit Bewusstsein, das immer Bewusstsein von etwas ist. Mit jedem Satz schreitet die Teilung weiter voran, die sprachliche Erfassung der unerfassbaren Welt wird kleinteiliger, konkreter. Die Begriffe stoßen sich voneinander ab, erläutern sich gegenseitig. Im Unendlichen schließt sich der Kreis, aus der Vernetzung unendlich vieler Urteile entsteht die Welt neu. So ungefähr stellte sich Hölderlin den Zusammenhang von Sprache und Welt vor. Eine Utopie der möglichen Entsprechung von Sprache und Welt als unendlicher Annäherung durch die unaufhörliche Bildung von Sätzen. Die Utopie voranschreitender sprachlicher Präzision in der Produktion von Text.

Inwieweit diese Präzision der begrifflichen Verkettungen etwas mit der nichtlinearen Welt zu tun hat, bleibt in allen Versuchen, die Kluft zu überbrücken, ungeklärt. Die Pragmatiker lösen das Problem gordisch: Natürlich gibt es die Welt. Wir gehen täglich in unseren Sätzen davon aus, dass den Worten etwas entspricht („und dann musst du an der Ampel links abbiegen...“). Die Pessimisten pflegen das Leben in der Zelle: Die Käfer bleiben in ihren begrifflichen Schachteln für sich, wir in unserem Bewusstseinskäfig für immer allein. Alles andere sind Missverständnisse in fremden Sprachen. Gelingende Kommunikation ist unwahrscheinlich. Und was heißt Gelingen? Dass man an der Ampel am Ende links abbiegt? Dass man jeden Subtext des Gemeinten versteht? Dass man die soziokulturellen Hintergründe des Sprechers beim Verstehen mitrealisiert? Dass man ironisches Sprechen erkennt? Nichts als Unsicherheiten. Doch ohne den unsicheren Brückenschlag der Sprache, der nicht von klarer Information, sondern von der stets bleibenden Unschärfe zehrt, bliebe die Welt schweigend, das Blatt weiß.

Als Mittel der Abbildung taugt Sprache nicht. Jeder Satz schlägt eine willkürliche Schneise in die sichtbare Welt. Es bleibt auf der Strecke, was nicht zugleich gesagt werden konnte oder bei gleicher Beschreibung anders aussehen könnte. Beschreibung ersetzt kein Bild, kein Szenario. Es bleibt eine Lücke, jene Unschärfe, die dem Leser erlaubt, sich statt des Zusammenhangs, der dargestellt werden sollte, zu denken, was er darin lesen will. Doch das Imaginäre hat wenig mit dem Sichtbaren zu tun. Das erlebt jeder, der versucht, ein Drehbuch zu realisieren.

Spuren

Die Pflege eines Vorgartens, die Neuorganisation eines Archivs, der Auftritt auf einer Bühne, Bücherschreiben und Filmedrehen. Diese unterschiedlichen Aktivitäten haben alle gemeinsam, dass der Täter unbedingt versucht, am Tatort Spuren zu hinterlassen. Die geglückte Organisation eines Raumes ist der Beweis, dass es uns gibt. Doch die Neigung der Dinge und Organismen, nicht still zu halten, macht jeden Versuch zunichte, dieser Organisation Dauer zu verleihen. Vom Einschlag des Kometen, der seinerzeit die Dinosaurier auslöschte, zeugen nur so geringe Spuren, dass man lieber von einer Hypothese redet. Der Schreck, der einen angesichts der Bilder befallen kann, die von der Zerstörung einer riesigen buddhistischen Statue gedreht wurden, von der turmhohen Nische, die nunmehr leer ist, beweist allerdings die Macht der Spur die hier getilgt wurde und die ihrerseits einem von Spuren eines verschwundenen Flussbettes gezeichneten Berg aufgezwungen wurde. Und auch der Bildbericht ist eine Spur, eine äußerst flüchtige. Sie droht im Gewirr der Bilder zu verschwinden. Eingeprägt hat er sich vielleicht nur einem Gedächtnis, als Spur. Endgültig unsichtbar wird diese Spur vielleicht erst durch dessen Tod.

In der Vielzahl von einander überlagernden Spuren ist das Spurenlesen schwieriger geworden. Die Lesbarkeit der Welt hat nicht mit der Vielzahl der Texturen zugenommen. Ähnlich wie jeder Überwachungsstaat seine Grenzen selbst produziert, wenn die Überwachung in Zeit und Aufwand beginnt, über das Überwachte hinauszuwuchern, Unleserlichkeit zu produzieren statt der gewünschten absoluten Klarheit, führt jede Steigerung der Verfügbarkeit von Informationen zu Undurchdringlichkeit. Das Angebot erschlägt. Präsenz neigt in der Masse dem Verschwinden, der vollständigen Anonymität zu. Auch ein Problem des Internet, in dem immer mehr verschwindet als aufscheint.

Wir sehen nur die sichtbaren Spuren, die erfolgreichen, in denen die Organisation eines Raumes für eine kurze Zeit gelungen ist. Zu jedem Film, der gezeigt wird, und wenn nur für wenige Tage in einem kleinen Kino, gehört jedoch immer ein weiterer, der gedreht wurde, aber niemals seine Zuschauer finden wird, eine verdeckte oder missglückte Spur. Was aber ist ein Film, den niemand sieht? Auf Marc Twain geht der Witz zurück, dass der beste Feldherr aller Zeiten nicht etwa Napoleon gewesen sei, sondern ein Schneider aus Schottland, der nur nie die Gelegenheit hatte, sein Talent zu beweisen.