Freitag, 9. November 2012

Tabu - eine Geschichte von Liebe und Schuld



Ein in verschiedener Hinsicht merkwürdiger und überraschender Film: Als Intro sieht man einen parodierten historischen Stummfilm mit Erzählerstimme, der angeblich in Afrika spielen soll, dessen Kulisse allerdings nur durch die schwarzen Darsteller annähernd afrikanisch wirkt. Ein Mann sucht aus Verzweiflung über den Tod seiner geliebten Frau den Tod im Rachen eines Krokodils. Die ausgestopfte Attrappe ist nur einer der absichtlichen Stolpersteine dieses an "schlechten Einstellungen" und sichtbaren Regiefehlern reichen Vorfilms, der als Film im Film von der Hauptfigur des ersten Teils, der in der Gegenwart Lissabons spielt, gesehen wird, eine verballhornte Anspielung an Murnaus und Flahertys Film gleichen namens. Im Umschnitt in den Zuschauerraum des Kinos allerdings bleibt der Film schwarz-weiß, eine Distanzierung unter vielen, die der Film einsetzt, um dem Zuschauer die letzten Zweifel zu nehmen, dass hier erzählt wird, nicht dokumentiert. Die Gegenwart Lissabons, in die man springt, wird aus der Sicht Pilars gezeigt, über fünfzig, katholisch, alleinstehend und in ein Leben aus karitativer Selbstverleugnung, Langeweile, alten Filmen und die Freundschaft zu einem narkoleptischen Künstler betoniert.

So klar sich hinterher erweist, dass diese quasi realistische und deprimierende Seite der Geschichte, insbesondere die Leidenschaftslosigkeit der vorgeführten Beziehung das Gegenbild zur Amour fou der folgenden Erinnerungen abgibt, so sehr tendiert dieser Filmteil dazu, dem zu erliegen, was er darstellt: der Langeweile eines unerfüllten Lebens. Störfaktor darin sind die exzentrische und altersverrückte Nachbarin Dona Aurora, ihr afrikanisches Hausmädchen und die zahlreich ausgestellten Erzählmittel. In allen Innenaufnahmen Pilars scheint es zu regnen, in keiner einzigen Außenaufnahme sieht man Tropfen, die denen auf den Studioscheiben entsprechen könnten. Eine Führung in der Unterwelt Lissabons sieht wie im Studio nachgestellt aus, der Text des Führers ist absurd genug, um die Veranstaltung als Fake zu offenbaren. Und die mysteriöse Nachbarin Dona Aurora tritt in einer irritierenden Einstellung im Kasino mit Divensonnenbrille auf, der unscharfe Hintergrund dreht sich kontinuierlich, während sie erzählt, welcher Traum sie gezwungen hat, ihr ganzes Geld im Kasino zu verspielen.

Wieso ausgerechnet Pilar sie dort abholen soll und wieso sie das macht, sind Fragen, die der Film nach seinem absurden Intro bereits unterbunden hat. Spätestens hier ist klar, dass der Film gar nicht erst den Versuch unternimmt, eine realistische Geschichte aus dem heutigen Portugal zu erzählen, sondern die Destabilisierung gerade dieser Erzählkonventionen versucht, um in dem entstehenden Rückraum an die nichtsichtbaren und damit auch tendenziell nicht ablichtbaren Wünsche und Geheimnisse unseres eben nur vordergründig realistischen Lebens heranzukommen.

Der Tod der Dona Aurora und die Suche nach einem ehemaligen Liebhaber im Altersheim schiebt nun als zweiten Teil eine riesige Rückblende in die Zeit Auroras als junger Frau in Afrika an, die vollständig als erzählte Montage aus verschiedenen Bildebenen vorgeführt wird, wozu die Stimme des greisen Liebhabers den Erzähler gibt. Der O-Ton ist dabei um Dialoge bereinigt, man hört gewissermaßen den IT-Ton, wie er für Synchronfassungen hergestellt wird – aber auch hier sind Brüche nachweisbar. Nicht jeder Schuss ist auch vertont, nicht jedes Fauchen des jungen Krokodils, das als Seelentier diesmal lebend durch die Liebesgeschichte wandert. Die Unzuverlässigkeit des Tons, der mit voller Absicht und dauerhaft die Schere zum Bild aufmacht, wie das in The Artist als Gag nach Beginn der Tonfilmära kurz einmal vorgeführt wird, greift auch die Glaubwürdigkeit des Bildes an, das eben kein Stummfilmbild ist, sondern mit den genannten Mitteln der Überhöhung eine Erzählung illustriert, deren Glaubwürdigkeit durch die Präsentation stets in Frage gestellt wird. Auch wenn diesmal die Bilder in Afrika gedreht sind und die Bildspur einen historisierenden Realismus weitgehend bruchlos bemüht – Autos und Kleidung scheinen authentisch – so ist aufgrund des Gesamtarrangements trotzdem nicht nur Vorsicht geboten, sondern es ist völlig egal, ob hier die Zusammenhänge richtig recherchiert sind oder nicht. Ähnlich wie in E la nave va wird das Kino hier als Illusionsmaschine vorgeführt und zwar mit kameratechnisch und bildsprachlich modernen Mitteln. Die Historisierung – 4:3-Bildverhältnis, schwarz-weiß – wird gerade zu einem Zeitpunkt der Filmgeschichte als Spielfläche der erzählerischen Phantasie beschworen und gegen ein „graues“ Lissabon der Gegenwart gesetzt, in der das Zelluloid als Trägermaterial gerade abdankt und der Sieg der Breitbildformate bis in die Consumergeräte durchgeschlagen hat. Die Nostalgie der alten Formen des leidenschaftlichen Erzählens ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: Im Grunde ist der zweite Teil der Film, der im Kopf einer Heldin vom Zuschnitt Pilars vor sich geht, ein reichlich dick aufgetragenes Liebesmelodram, in dem es nicht an leidenschaftlichen Gefühlen, Opfern, eifersüchtigen Ehemännern, Mord und Entsagung fehlt, ganz dem pathetischen Untertitel des Films entsprechend. Und doch habe ich mich dabei ertappt, das gerade diese reichlich krude Geschichte, weil sie vielfach ungewöhnlich dokumentarisch gefilmt erscheint, weil die Darsteller in belanglosen Situationen gezeigt und kuriose Klitterungen betrieben werden, wie die, dass behauptet wird, der Liebhaber sei Schlagzeuger in einer Band – man sieht, dass der Darsteller dieses Instrument definitiv nicht beherrscht –, die von einem unbestimmt bleibenden afrikanischen Land aus als weiße Beat-Band mit italienischem Sänger Karriere in Großbritannien machen soll.

Ähnlich den offensichtlich schlechten Rücksetzern in Ozons Angel oder dem Meer aus Plastikfolie bei Fellini und in der Augsburger Puppenkiste wimmelt es in diesem Film von Fakes, Attrappen und Attacken gegen die Gesetze der filmischen Glaubwürdigkeit. Man lauscht der Stimme eines greisen Geschichtenerzählers, dem man sich allmählich ergibt, in dem Wissen, dass seine Erinnerung trügt und vieles dazuerfindet, was niemals stattgefunden hat. Und durch die witzigen Brüche und Fehler unterbindet der Film das Raunen, mit dem beschworen werden könnte, es sei früher alles besser und dramatischer gewesen. "Es gib keinen Mount Tabu in Mosambik, ihr dürft nicht alles glauben, was ihr im Film sehr".

Ein wenig fragt man sich gegen Ende, warum die beiden Liebenden es sich eigentlich so schwer gemacht haben: Zu Zeiten der Patchwork-Familien wäre ein Ausbruch aus bestehenden Verbindungen ja kein Beinbruch, aber genau an den Grenzen des sozial Erlaubten erhitzt sich eben die Phantasie, als wäre das heutige Lissabon auch dadurch grauer, dass alles erlaubt scheint, sogar im katholischen Horizont durch die Nebenrolle einer aus Taizé anreisenden Polin illustriert, die keine Lust hat, bei Pilar unterzukommen, deshalb lieber ihren Namen leugnet und später mit einem Freund zu sehen ist. Das Drama Pilars ist das Fehlen der Dramatik, die sie sich aus zweiter Hand besorgen muss. Das "Paradies" – so auch der Untertitel des zweiten Teils – der erfüllten Erzählung war immer schon verloren, auch wenn es schwerfällt, seinem Zauber trotz der Widerstände der Erzählung selbst nicht zu erliegen.