Freitag, 14. Dezember 2012

Komödien

Habe gerade einen Post bei Revolver eingestellt. Ein Interview mit Chris Morris. Die derbe britische Komik eines Films wie Four Lions ist offensichtlich nicht mit der kompatibel, die von den meisten Revolver-Machern gepflegt wird. Jedenfalls gab es kein Interesse, das Interview in der Zeitschrift zu veröffentlichen. Daraus lässt sich jetzt auch kein allgemeines Statement über Komödien in Deutschland destillieren. Four Lions ist speziell und auch beim dritten Lesen des Interviews gab es Stellen, bei denen sich der Eindruck doch sehr deutlich einstellt, dass Chris Morris eine Vorliebe hat, sich in einer Weise darzustellen, wie sie deutschen Fernsehgestalten von Harald Schmidt bis Stefan Raab ähnlich ist. Scheinbar respektlos gegen alles und mit ironischer Distanz. Eine Eigenheit des Films ist jedoch, dass die partielle Schadenfreude im Laufe der Geschichte kippt.

Freitag, 9. November 2012

Tabu - eine Geschichte von Liebe und Schuld



Ein in verschiedener Hinsicht merkwürdiger und überraschender Film: Als Intro sieht man einen parodierten historischen Stummfilm mit Erzählerstimme, der angeblich in Afrika spielen soll, dessen Kulisse allerdings nur durch die schwarzen Darsteller annähernd afrikanisch wirkt. Ein Mann sucht aus Verzweiflung über den Tod seiner geliebten Frau den Tod im Rachen eines Krokodils. Die ausgestopfte Attrappe ist nur einer der absichtlichen Stolpersteine dieses an "schlechten Einstellungen" und sichtbaren Regiefehlern reichen Vorfilms, der als Film im Film von der Hauptfigur des ersten Teils, der in der Gegenwart Lissabons spielt, gesehen wird, eine verballhornte Anspielung an Murnaus und Flahertys Film gleichen namens. Im Umschnitt in den Zuschauerraum des Kinos allerdings bleibt der Film schwarz-weiß, eine Distanzierung unter vielen, die der Film einsetzt, um dem Zuschauer die letzten Zweifel zu nehmen, dass hier erzählt wird, nicht dokumentiert. Die Gegenwart Lissabons, in die man springt, wird aus der Sicht Pilars gezeigt, über fünfzig, katholisch, alleinstehend und in ein Leben aus karitativer Selbstverleugnung, Langeweile, alten Filmen und die Freundschaft zu einem narkoleptischen Künstler betoniert.

So klar sich hinterher erweist, dass diese quasi realistische und deprimierende Seite der Geschichte, insbesondere die Leidenschaftslosigkeit der vorgeführten Beziehung das Gegenbild zur Amour fou der folgenden Erinnerungen abgibt, so sehr tendiert dieser Filmteil dazu, dem zu erliegen, was er darstellt: der Langeweile eines unerfüllten Lebens. Störfaktor darin sind die exzentrische und altersverrückte Nachbarin Dona Aurora, ihr afrikanisches Hausmädchen und die zahlreich ausgestellten Erzählmittel. In allen Innenaufnahmen Pilars scheint es zu regnen, in keiner einzigen Außenaufnahme sieht man Tropfen, die denen auf den Studioscheiben entsprechen könnten. Eine Führung in der Unterwelt Lissabons sieht wie im Studio nachgestellt aus, der Text des Führers ist absurd genug, um die Veranstaltung als Fake zu offenbaren. Und die mysteriöse Nachbarin Dona Aurora tritt in einer irritierenden Einstellung im Kasino mit Divensonnenbrille auf, der unscharfe Hintergrund dreht sich kontinuierlich, während sie erzählt, welcher Traum sie gezwungen hat, ihr ganzes Geld im Kasino zu verspielen.

Wieso ausgerechnet Pilar sie dort abholen soll und wieso sie das macht, sind Fragen, die der Film nach seinem absurden Intro bereits unterbunden hat. Spätestens hier ist klar, dass der Film gar nicht erst den Versuch unternimmt, eine realistische Geschichte aus dem heutigen Portugal zu erzählen, sondern die Destabilisierung gerade dieser Erzählkonventionen versucht, um in dem entstehenden Rückraum an die nichtsichtbaren und damit auch tendenziell nicht ablichtbaren Wünsche und Geheimnisse unseres eben nur vordergründig realistischen Lebens heranzukommen.

Der Tod der Dona Aurora und die Suche nach einem ehemaligen Liebhaber im Altersheim schiebt nun als zweiten Teil eine riesige Rückblende in die Zeit Auroras als junger Frau in Afrika an, die vollständig als erzählte Montage aus verschiedenen Bildebenen vorgeführt wird, wozu die Stimme des greisen Liebhabers den Erzähler gibt. Der O-Ton ist dabei um Dialoge bereinigt, man hört gewissermaßen den IT-Ton, wie er für Synchronfassungen hergestellt wird – aber auch hier sind Brüche nachweisbar. Nicht jeder Schuss ist auch vertont, nicht jedes Fauchen des jungen Krokodils, das als Seelentier diesmal lebend durch die Liebesgeschichte wandert. Die Unzuverlässigkeit des Tons, der mit voller Absicht und dauerhaft die Schere zum Bild aufmacht, wie das in The Artist als Gag nach Beginn der Tonfilmära kurz einmal vorgeführt wird, greift auch die Glaubwürdigkeit des Bildes an, das eben kein Stummfilmbild ist, sondern mit den genannten Mitteln der Überhöhung eine Erzählung illustriert, deren Glaubwürdigkeit durch die Präsentation stets in Frage gestellt wird. Auch wenn diesmal die Bilder in Afrika gedreht sind und die Bildspur einen historisierenden Realismus weitgehend bruchlos bemüht – Autos und Kleidung scheinen authentisch – so ist aufgrund des Gesamtarrangements trotzdem nicht nur Vorsicht geboten, sondern es ist völlig egal, ob hier die Zusammenhänge richtig recherchiert sind oder nicht. Ähnlich wie in E la nave va wird das Kino hier als Illusionsmaschine vorgeführt und zwar mit kameratechnisch und bildsprachlich modernen Mitteln. Die Historisierung – 4:3-Bildverhältnis, schwarz-weiß – wird gerade zu einem Zeitpunkt der Filmgeschichte als Spielfläche der erzählerischen Phantasie beschworen und gegen ein „graues“ Lissabon der Gegenwart gesetzt, in der das Zelluloid als Trägermaterial gerade abdankt und der Sieg der Breitbildformate bis in die Consumergeräte durchgeschlagen hat. Die Nostalgie der alten Formen des leidenschaftlichen Erzählens ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: Im Grunde ist der zweite Teil der Film, der im Kopf einer Heldin vom Zuschnitt Pilars vor sich geht, ein reichlich dick aufgetragenes Liebesmelodram, in dem es nicht an leidenschaftlichen Gefühlen, Opfern, eifersüchtigen Ehemännern, Mord und Entsagung fehlt, ganz dem pathetischen Untertitel des Films entsprechend. Und doch habe ich mich dabei ertappt, das gerade diese reichlich krude Geschichte, weil sie vielfach ungewöhnlich dokumentarisch gefilmt erscheint, weil die Darsteller in belanglosen Situationen gezeigt und kuriose Klitterungen betrieben werden, wie die, dass behauptet wird, der Liebhaber sei Schlagzeuger in einer Band – man sieht, dass der Darsteller dieses Instrument definitiv nicht beherrscht –, die von einem unbestimmt bleibenden afrikanischen Land aus als weiße Beat-Band mit italienischem Sänger Karriere in Großbritannien machen soll.

Ähnlich den offensichtlich schlechten Rücksetzern in Ozons Angel oder dem Meer aus Plastikfolie bei Fellini und in der Augsburger Puppenkiste wimmelt es in diesem Film von Fakes, Attrappen und Attacken gegen die Gesetze der filmischen Glaubwürdigkeit. Man lauscht der Stimme eines greisen Geschichtenerzählers, dem man sich allmählich ergibt, in dem Wissen, dass seine Erinnerung trügt und vieles dazuerfindet, was niemals stattgefunden hat. Und durch die witzigen Brüche und Fehler unterbindet der Film das Raunen, mit dem beschworen werden könnte, es sei früher alles besser und dramatischer gewesen. "Es gib keinen Mount Tabu in Mosambik, ihr dürft nicht alles glauben, was ihr im Film sehr".

Ein wenig fragt man sich gegen Ende, warum die beiden Liebenden es sich eigentlich so schwer gemacht haben: Zu Zeiten der Patchwork-Familien wäre ein Ausbruch aus bestehenden Verbindungen ja kein Beinbruch, aber genau an den Grenzen des sozial Erlaubten erhitzt sich eben die Phantasie, als wäre das heutige Lissabon auch dadurch grauer, dass alles erlaubt scheint, sogar im katholischen Horizont durch die Nebenrolle einer aus Taizé anreisenden Polin illustriert, die keine Lust hat, bei Pilar unterzukommen, deshalb lieber ihren Namen leugnet und später mit einem Freund zu sehen ist. Das Drama Pilars ist das Fehlen der Dramatik, die sie sich aus zweiter Hand besorgen muss. Das "Paradies" – so auch der Untertitel des zweiten Teils – der erfüllten Erzählung war immer schon verloren, auch wenn es schwerfällt, seinem Zauber trotz der Widerstände der Erzählung selbst nicht zu erliegen.


Freitag, 28. September 2012

Afrika im Nirgendwo


Deutsch und weiß: Aktuelle deutsche Spielfilme über den „schwarzen Kontinent“


Im gleißenden spanischen Sonnenlicht liegen Touristen am Strand unter blauem Himmel. Auf dem Meer glitzern die Wellenkämme in träger Dünung. Ab und zu stürzen sich eine Frau oder ein Kind ins Wasser, die Kamera taucht mit ab, schwelgt in den Farben des prallen Urlaubsidylls. Doch dann schiebt sich ein schäbiges Boot ins Bild, randvoll beladen mit afrikanischen Flüchtlingen, die, halb verdurstet, der stechenden Sonne seit Tagen schutzlos ausgeliefert sind. Einige sind auf der Überfahrt ums Leben gekommen, andere sterben noch am Strand vor den Augen der entsetzten Touristen. Die wenigen Überlebenden sehen sich gehetzt um: angekommen in Europa und doch scheinbar ewig auf der Flucht.

Mit solchen Bildern setzen zwei neue deutsche Filme auf die scharfen Kontraste von Flüchtlingselend und Urlaubsüberfluss. Sören Voigts „Implosion“ (2011) und Maggie Perens „Die Farbe des Ozeans“ (Kritik in dieser Ausgabe) schließen damit an einen Trend zum Flüchtlingsfilm an, der schon in Erich Wagenhofers Melodram „Black Brown White“ (2010) zwiespältig bedient wurde. Afrikanische Boat People sind im deutschen Film momentan sozusagen gerade „in“; das gilt in gewisser Weise auch für das Thema „Afrika“ generell. So gibt in Pia Marais’ „Im Alter von Ellen“ ein Gepard beim Zwischenstopp in Afrika das Signal für den Ausbruch im Leben der Protagonistin. „Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler spielt zu großen Teilen unter Deutschen in Kamerun und führt dabei tief ins Herz der Finsternis des Kolonialismus und seiner Widersprüche.

Spiegelbilder eigener Bedürfnisse

Die neuen Flüchtlingsfilme bleiben dabei nahe an der medialen Wirklichkeit von Nachrichtensendungen, deren Ästhetik sie den kontrastscharf gezeichneten opulenten Kinobildern von Urlaubsszenarien und flatternden Plastikfolien der Flüchtlingscamps gegenüberstellen. Die Möglichkeiten einer ironischen Brechung, etwa durch Film im Film wie in Aki Kaurismäkis „Le Havre“, werden ausgeschlagen. Wahr sollen diese Geschichten sein und engagiert im Namen der Menschlichkeit. Doch die Form der inhaltlichen Fokussierung führt – wie bei den Nachrichtenschnipseln – zu einer problematischen Verkürzung der Ereignisse auf Sensationswert und Betroffenheitsrituale. Die Geschichte um illegale Flüchtlinge ist in „Implosion“ wie auch bei „Die Farbe des Ozeans“ der raue Hintergrund, vor dem die eher gewöhnlichen persönlichen Probleme deutscher Paare und Familien globales Gewicht bekommen. Eine Reflexion über die Verhältnisse findet dabei nur am Rande statt.

In „Die Farbe des Ozeans“ wird die tragisch verlaufende Flucht des senegalesischen Flüchtlings Zola aus dem Auffanglager als spannendes Drama inszeniert. Eine zufällige Begegnung mit der deutschen Touristin Natalie ist folgenreich. Sie beschließt, ihm die Flucht zu finanzieren. Der Hintergrund von Nathalies „Helferleinsyndrom“ ist aber nur zum Teil der humanitäre Anspruch, dass man Menschen in Not unterstützen soll. Nathalie sieht in dem für sich und seinen Sohn leidenschaftlich kämpfenden Vater das Wunschbild eines besseren Partners. Auch wenn die Anklänge dieser möglichen Liebesgeschichte nur äußerst dezent gesetzt sind, erklärt dieser motivische Zusammenhang, warum die Figur des Flüchtlings so schwach beleuchtet bleibt: Sie ist nur ein Spiegelbild der Wünsche der deutschen Hauptdarstellerin. Folgerichtig bewirkt sein Tod am Ende eine neue Innigkeit in der Beziehung des deutschen Paares.

Auch in „Implosion“ erscheint die kongolesische Flüchtlingsfrau Djamile als eine Art Fata Morgana der Hauptfigur. Der 16-jährige Thomas rebelliert gegen die neue Beziehung seines Vaters, indem er Djamile vor der Polizei im Hotelzimmer versteckt. Djamile ist nicht viel älter als Thomas, aber sexuell erfahren; sie wurde als Prostituierte nach Spanien geschleust. Wundersamer Weise spricht sie Deutsch und ordnet sich den Wünschen der jugendlichen Hauptfigur, den der geheimnisvolle Flirt aus der Tristesse seiner zerbrechenden Kleinfamilie erlösen soll, trotz ihrer akuten Probleme erstaunlich mühelos unter. Irgendwann gerät darüber fast die Bedrohung der Abschiebung aus dem Blick; sie wird schließlich von der Bedrohung durch die (schwarzen) Zuhälter überlagert, denen Djamile mit Thomas’ Hilfe entfliehen kann. Am Ende trifft sie Thomas in Deutschland wieder. Ein versöhnlicher Ausblick, der Thomas für erlittenes familiäres Unrecht mit einer Liebe entlohnt, die sich über Grenzen hinwegsetzt.

Wie in „Die Farbe des Ozeans“ ist auch in „Implosion“ die Erzählperspektive deutsch und weiß; das Thema der illegalen Einwanderung fungiert primär als abenteuerlicher Hintergrund für Thomas’ Protest gegen seine Familie – nicht zufällig ist sein Vater Staatsanwalt. Projektionen und Wunschbilder sind Bestandteil vieler Liebesgeschichten. Sie können das Objekt der Begierde so überlagern, dass nur noch ein Zerrbild der realen Person zu erkennen ist. Das im heiklen Umfeld des angezielten schwarz-weißen „Culture Clashs“ zu thematisieren, wäre eine reizvolle Aufgabe. Doch stattdessen setzen die Filme auf allzu klare Konfrontation gegensätzlicher Welten. Der Blick auf die Bilder hinter den Blicken ist offensichtlich nicht erwünscht. Diese Zurückhaltung ist zwar auch dem berechtigten Argwohn gegenüber parteiischen Sozialdramen geschuldet, spiegelt zugleich aber die weitverbreitete Befindlichkeit eines Landes wider, das sich für Probleme des Postkolonialismus nur sehr bedingt verantwortlich fühlt. Deutschland ist eben kein Mittelmeeranrainerland. Folgerichtig spielen alle deutschsprachigen Flüchtlingsdramen im Lieblingsurlaubsland der Deutschen, Spanien.

Besonders ärgerlich an der Weigerung, mit bekannten Klischees zu brechen, ist, dass die legal in Spanien lebenden Afrikaner die eigentlichen Bösewichter der moralischen Erzählung sind. In „Die Farbe des Ozeans“ verrät der vermeintlich helfende Landsmann aus Geldgier den Flüchtling und verschuldet so seinen Tod. Ein anderer Schwarzer tritt als Dealer auf. Selbst dem rassistischen Guardia-Civil-Polizisten wird nach dem Tod einer Drogenabhängigen eine Konversion gewährt; den in Spanien lebenden Afrikanern aber nicht. Damit werden untergründig die landläufigen Vorstellungen vom kriminellen Ausländer bedient, so als hätte Deutschland keine inzwischen 40-jährige Geschichte als Einwandererland, in der eingewanderte Afrikaner und Deutsche mit afrikanischen Wurzeln das Gemeinschaftsleben mitgeprägt haben.

„Weiße fühlen sich, auch wenn sie sich großzügig geben, den Schwarzen überlegen. Es ist so ekelhaft, wie mitfühlend Leute über Afrika reden“, hat Claire Denis anlässlich ihres Afrika-Films „White Material“ zu Protokoll gegeben. Mitgefühl mit den Gepeinigten dieser Erde ist denn auch die vorherrschende Haltung der Hauptfiguren in „Implosion“ und „Die Farbe des Ozeans“. Allerdings ist die humanitäre Geste, die das Gewissen erleichtert, nicht billig zu haben. Das stellt auch Maggie Peren heraus: in diesem auf die Spitze getriebenen Fall um den Preis eines Lebens.

Hoffnung auf Migration

Die Darstellung der Flüchtlinge als Ärmste der Armen ist nicht nur in vielen Filmen, sondern schon in den Berichten der Nachrichtenmagazine oft herablassend bis ignorant. Sie lässt aus, dass die reelle Armut vieler Länder in Afrika mit den Spätfolgen der Kolonialisierung zusammen hängt, mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten, von denen die westlichen Unternehmen und einige Wenige vor Ort profitieren. Auch wird gerne ausgeblendet, dass es ein afrikanisches „Prinzip Hoffnung“ der Migration gibt, wie es beispielsweise „Espoir voyage“ (2011) von Michel K. Zongo belegt. In der Regel sind die Migranten, die ein Vermögen zahlen, um nach Europa zu gelangen, die Hoffnungsträger größerer Familienclans. Nach einer Studie des Entwicklungshilfeministeriums sind die Geldrückflüsse, mit denen diese Migranten ihre Familien unterstützen, die sogenannten „remittances“, für Afrika wichtiger und sinnvoller als die offizielle Entwicklungshilfe.

Während der aktuellen Wirtschaftskrise ist der Ruf nach Abschottung der südlichen Grenzen in Europa ständig lauter geworden. Das erklärt vielleicht auch die Vielzahl europäischer Flüchtlingsfilme. In Toni Gatlifs Filmessay „Indignados“ (2012) driftet die Flüchtlingsfrau Betty zu den Thesen von Stéphane Hessel durch die Mittelmeer-Anrainerstaaten. Nur bei den Protestbewegungen gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik fühlt sie sich kurzzeitig heimisch. Ein etwas gewollter Kurzschluss zwischen Flüchtlingsgeschichte und dem Aufstand der Arbeitslosen, aber eine klare Stellungnahme, wie sie aus Deutschland bislang weder zu hören noch zu sehen war.

In den klassischen Kolonialländern gibt es inzwischen eine reiche Tradition der vielschichtigen Darstellung von Afrika-Flüchtlingen, schwarzen Einwanderern oder deren Nachkommen; nicht nur in erfolgreichen Kinoproduktionen wie den Filmen von Kaurismäki oder Oliver Nakaches „Ziemlich beste Freunde“, der überzeugend gegen das bloße Mitgefühl die Freundschaft setzt. Eliane de Latours „Les oiseaux du ciel“ (2005) erzählt von zwei befreundeten Liberianern, die ohne Papiere von Spanien aus Europa erobern wollen. Ein Flüchtlingsfilm aus der Perspektive der Flüchtlinge. Der eine wird erwischt und abgeschoben, kämpft in seinem Heimatland Liberia für ein selbstständiges Afrika, gilt aber bei seiner Familie als Loser, weil er es „nicht geschafft“ hat. Der andere kehrt als Held nach Afrika zurück, obwohl er nach vielen gescheiterten ehrlichen Versuchen nur durch Gaunereien in Europa reich geworden ist – ein Film aus afrikanischer Sicht. „Moi et mon blanc“ des burkinischen Filmemachers Pierre Yameogo ist eine der zahlreichen Darstellungen der europäisch-afrikanischen Intereferenzphänomene aus afrikanischer Sicht. Aber er spielt eben zur Hälfte in Frankreich, nicht in Deutschland.

Ein Perspektivwechsel

„Schlafkrankheit“ ist der einzige neuere deutsche Film, der im zweiten Teil einen vergleichbaren Perspektivwechsel wagt. Der schwarze Arzt Alex, der in Paris aufgewachsen ist, kämpft bei seiner Afrika-Mission nicht nur verzweifelt um Anerkennung als schwarzer Franzose. Er ist auch von den Lebensbedingungen in Kamerun komplett überfordert, die ihm fremd und unheimlich sind. Als Schwarzer ist man heutzutage eben selbst im Land der Vorfahren keineswegs zwangsläufig zuhause. Die Gegenfigur in der schwarz-weißen Gemengelage, die der Film ausbreitet, ist der zynische deutsche Postkolonialist Ebbo Velten, den seine Rassismen nicht hindern, Land und Leute zu lieben und Seuchen zu bekämpfen – und gelegentlich den Großwildjäger zu geben.

Diese schillernde Figur führt die unterbewussten Konstellationen der ehemaligen Kolonialmacht Deutschland schmerzhaft vor Augen, die die jüngsten deutschen Filmversuche einer Annäherung an die Effekte der Globalisierung nur bedienen. Nur weil es seit dem verlorenen ersten Weltkrieg keine direkten Protektorate mehr gibt, ist jedoch der Einfluss deutscher Wirtschaft und die Beteiligung an Hilfsorganisationen oder internationalen Geldgeberorganisationen keineswegs geringer als der anderer europäischer Länder. Der wohlmeinende deutsche Gutmensch auf Urlaub mag sich deshalb politisch korrekt und emotional schlüssig verhalten, wenn er in Spanien einem Bootsflüchtling hilft. Und wenn der Flüchtling an der Hilfeleistung stirbt, ist es auch richtig, die Hilfeleistung selbst zu hinterfragen. Eine Stellungnahme zur Globalisierung, wie es in einer Kritik hieß, ist das trotzdem nicht. Denn die Verlegung in das europäische Nirgendwo eines Urlaubssetting bereinigt die Geschichte um das, was die Konfrontation mit Immigrationsverhältnissen in Deutschland hätte zeigen können. Afrika ist nicht nur im fernen Spanien, sondern auch in unserem Alltag stets präsent. Nur die Spanischlehrerin in „Implosion“, die neue Freundin des Vaters, deutet überhaupt an, dass es in Deutschland Migranten gibt. Schwarze Deutsche machen in diesen Filmen ganz sicher keinen Urlaub in Spanien.

Man kann keinem Film vorwerfen, dass er nicht das einlöst, was er sich nicht vornimmt. Höchstens was er sich vornimmt oder, dass er nicht weit genug geht. So verständlich das Mitgefühl für das „Flüchtlingselend“ ist: Filme, die sich der Thematik nur auf der „Mitleidsschiene“ nähern, lassen mehr aus, als sie in ihren schönen Bildern erzählen. Sie scheitern damit wie viele Subsahara-Flüchtlinge schon an der Grenze der Festung Europa.   

Marcus Seibert

Dieser Artikel erschien in FILM-DIENST 10/2012 (10. Mai 2012), Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Redaktion 



Werkstattgespräch François Ozon

Am Freitag den 5. Oktober halte ich um 15:00 im Museum für Angewandte Kunst (MAKK) in Köln ein einstündiges Werkstattgespräch mit François Ozon anlässlich seines neuen Films "Dans la maison" und der Verleihung des Kölner Filmpreises. Ich weiß nicht, ob man als Zuhörer bei den Cologne Conferences akkreditiert sein muss. Das Gespräch wird jedenfalls auf Französisch geführt und simultan gedolmetscht.

Werkstattgespräch Bernd Sahling

Im nächsten film-dienst erscheint ein Werkstattgespräch von mir mit Bernd Sahling. Er erzählt darin von den Schwierigkeiten, in Deutschland Kinderkinofilme zu drehen und den Problemen bei den Dreharbeiten seines jüngsten Films "Kopfüber" über einen Schulversager und seine Freundschaft zu einem Sozialarbeiter, der für Berlinale Generationen eingereicht werden wird. Bernd Sahling war noch zu DDR-Zeiten Mitstudent von Andreas Dresen an der HFF und hat zusammen mit seinem vor kurzem verstorbenen Mentor Helmut Cziuba den mit dem deutschen Filmpreis prämierten Film "Blindgänger" geschrieben, bei dem er auch Regie geführt hat. Von Bernd Sahling gibt es ein empfehlenswertes Buch mit zahlreichen interessanten Werkstattgesprächen "Deutsche Kinderfilme aus Babelsberg" (DEFA Schriftenreihe)

Mittwoch, 12. September 2012

Früher war alles besser

Die Jugend hatte schon immer ein Problem mit den Hilfsverben: Sie kann nichts oder will nicht, sie weiß nichts, obwohl sie sollte. Neulich wieder die Klage des Dozenten Haneke über die mangelnde Qualität des Schülermaterials, über Unwissenheit und Lernscheu. Beim Abfragen kanonischer Werke der eigenen Kunstgattung kam heraus, sie wissen nichts. Ich habe lieber nichts dazu gesagt – die Filme, die er nannte, habe ich zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren gesehen, einige gar nicht. So traf das als Vorwurf mich, obwohl es Zwanzigjährige meinte. Die Verzweiflung war aber, trotz aller Floskelhaftigkeit der Vorwürfe, echt: Keiner kennt mehr, was mir Wert gewesen ist und ich als Grundlage meiner Arbeit ansehe.

Auch ich hoffe, dass mein Horizont geteilt wird, dass meine Geschmacksvorlieben Zustimmung bei anderen finden. Die Unsicherheit der Kommunikation scheint in der geteilten ästhetischen Wahrnehmung besonders überzeugend überwindbar. Aber es sind am Ende immer die Gleichaltrigen, die unsere Vorlieben teilen. Meine Begeisterung für Musik von Frank Zappa oder Ligeti haben meine Eltern schon deshalb nie verstanden, weil sie diese Musik bis heute nicht kennen. Das hat mich nicht davon abgehalten, klassische Musik zu hören. Diese Koexistenz kam mir immer als Gewinn gegenüber meinen Eltern vor, die erstaunt waren, was ich alles nicht kenne.

Meine Kinder sollen meine Interessen, die sich über die Jahre verändert haben, nicht teilen müssen. So viel zu den Hilfsverben. Die Kindergeneration macht das schon. Sie weiß, was sie weiß, so wie wir wissen, was wir wissen. Vielleicht wissen sie mehr, als wir, vielleicht weniger, jedenfalls anderes. Wir können das erst beurteilen, wenn wir nicht auf das Recht der Älteren pochen. Wenn es uns nicht gelingt, Begeisterung zu wecken für etwas, das von der Zeit an den Rand gedrängt worden ist, sind die Erscheinungen, die uns mal am Herzen lagen, vielleicht nicht Wert, weitergetragen zu werden. Wer kennt schon heute noch Friedrich de la Motte-Fouquet, den Arno Schmidt mal mit einer Monographie aus der Vergessenheit gezerrt hat, die ihrerseits inzwischen fast vergessen ist? Die Gewohnheiten, auf denen wir uns ausruhen, sind nicht deshalb besser, weil sie älter sind. Sie sind anders. Wenn sich dann die Geschmäcker einmal auf ihrer Irrfahrt kreuzen, ist es umso schöner.

Dienstag, 11. September 2012

Haneke über Haneke

Leider erscheint der von mir übersetzte Interviewband der französischen Herausgeber Michel Cieutat und Philippe Rouyer nicht zum Filmstart von Michael Hanekes neuestem Film »Liebe« (AMOUR) am 12. September. Dafür allerdings schon mal vorab der 38-seitige Auszug aus dem Buch, der sich mit Entstehung und Dreharbeiten des Films befasst. Zu beziehen als eBook über die Webseite des Alexander-Verlages (siehe unten). Das vollständige Buch, eine wirklich spannende Besichtigung des Gesamtwerks von Haneke in 350 Seiten Interview, erscheint vermutlich erst im Frühjahr. Ich werde noch mal drauf hinweisen.

http://www.alexander-verlag.com/programm/titel/305-LIEBE_Amour.html?order_by=c.erschienen&start=

Montag, 4. Juni 2012

Revolver Heft 26







"Kann man Manifeste auf Bestellung schreiben? Wir haben
befreundete Filmemacher gebeten es zu versuchen.
Das Ergebnis ist heterogen und gegenwärtig und erlaubt
ein Stimmungsbild einer post-post-politischen
Generation, die weder Opas noch Papas Kino an den
Kragen will – aber die Faust ist trotzdem in der Tasche.

Das Heft erscheint mehrsprachig, um allen Autoren die
Lektüre aller Manifeste zu erlauben. Deutsche Manifeste
wurden ins Englische, Englische und Französische
ins Deutsche übersetzt."

Enthalten sind Manifeste von Marie Vermillard, Apichatpong Weerastethakul, Nina Menkes, Klaus Lemke, Claire Denis, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmakar, Franz Müller u.v.a.