Freitag, 28. September 2012

Afrika im Nirgendwo


Deutsch und weiß: Aktuelle deutsche Spielfilme über den „schwarzen Kontinent“


Im gleißenden spanischen Sonnenlicht liegen Touristen am Strand unter blauem Himmel. Auf dem Meer glitzern die Wellenkämme in träger Dünung. Ab und zu stürzen sich eine Frau oder ein Kind ins Wasser, die Kamera taucht mit ab, schwelgt in den Farben des prallen Urlaubsidylls. Doch dann schiebt sich ein schäbiges Boot ins Bild, randvoll beladen mit afrikanischen Flüchtlingen, die, halb verdurstet, der stechenden Sonne seit Tagen schutzlos ausgeliefert sind. Einige sind auf der Überfahrt ums Leben gekommen, andere sterben noch am Strand vor den Augen der entsetzten Touristen. Die wenigen Überlebenden sehen sich gehetzt um: angekommen in Europa und doch scheinbar ewig auf der Flucht.

Mit solchen Bildern setzen zwei neue deutsche Filme auf die scharfen Kontraste von Flüchtlingselend und Urlaubsüberfluss. Sören Voigts „Implosion“ (2011) und Maggie Perens „Die Farbe des Ozeans“ (Kritik in dieser Ausgabe) schließen damit an einen Trend zum Flüchtlingsfilm an, der schon in Erich Wagenhofers Melodram „Black Brown White“ (2010) zwiespältig bedient wurde. Afrikanische Boat People sind im deutschen Film momentan sozusagen gerade „in“; das gilt in gewisser Weise auch für das Thema „Afrika“ generell. So gibt in Pia Marais’ „Im Alter von Ellen“ ein Gepard beim Zwischenstopp in Afrika das Signal für den Ausbruch im Leben der Protagonistin. „Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler spielt zu großen Teilen unter Deutschen in Kamerun und führt dabei tief ins Herz der Finsternis des Kolonialismus und seiner Widersprüche.

Spiegelbilder eigener Bedürfnisse

Die neuen Flüchtlingsfilme bleiben dabei nahe an der medialen Wirklichkeit von Nachrichtensendungen, deren Ästhetik sie den kontrastscharf gezeichneten opulenten Kinobildern von Urlaubsszenarien und flatternden Plastikfolien der Flüchtlingscamps gegenüberstellen. Die Möglichkeiten einer ironischen Brechung, etwa durch Film im Film wie in Aki Kaurismäkis „Le Havre“, werden ausgeschlagen. Wahr sollen diese Geschichten sein und engagiert im Namen der Menschlichkeit. Doch die Form der inhaltlichen Fokussierung führt – wie bei den Nachrichtenschnipseln – zu einer problematischen Verkürzung der Ereignisse auf Sensationswert und Betroffenheitsrituale. Die Geschichte um illegale Flüchtlinge ist in „Implosion“ wie auch bei „Die Farbe des Ozeans“ der raue Hintergrund, vor dem die eher gewöhnlichen persönlichen Probleme deutscher Paare und Familien globales Gewicht bekommen. Eine Reflexion über die Verhältnisse findet dabei nur am Rande statt.

In „Die Farbe des Ozeans“ wird die tragisch verlaufende Flucht des senegalesischen Flüchtlings Zola aus dem Auffanglager als spannendes Drama inszeniert. Eine zufällige Begegnung mit der deutschen Touristin Natalie ist folgenreich. Sie beschließt, ihm die Flucht zu finanzieren. Der Hintergrund von Nathalies „Helferleinsyndrom“ ist aber nur zum Teil der humanitäre Anspruch, dass man Menschen in Not unterstützen soll. Nathalie sieht in dem für sich und seinen Sohn leidenschaftlich kämpfenden Vater das Wunschbild eines besseren Partners. Auch wenn die Anklänge dieser möglichen Liebesgeschichte nur äußerst dezent gesetzt sind, erklärt dieser motivische Zusammenhang, warum die Figur des Flüchtlings so schwach beleuchtet bleibt: Sie ist nur ein Spiegelbild der Wünsche der deutschen Hauptdarstellerin. Folgerichtig bewirkt sein Tod am Ende eine neue Innigkeit in der Beziehung des deutschen Paares.

Auch in „Implosion“ erscheint die kongolesische Flüchtlingsfrau Djamile als eine Art Fata Morgana der Hauptfigur. Der 16-jährige Thomas rebelliert gegen die neue Beziehung seines Vaters, indem er Djamile vor der Polizei im Hotelzimmer versteckt. Djamile ist nicht viel älter als Thomas, aber sexuell erfahren; sie wurde als Prostituierte nach Spanien geschleust. Wundersamer Weise spricht sie Deutsch und ordnet sich den Wünschen der jugendlichen Hauptfigur, den der geheimnisvolle Flirt aus der Tristesse seiner zerbrechenden Kleinfamilie erlösen soll, trotz ihrer akuten Probleme erstaunlich mühelos unter. Irgendwann gerät darüber fast die Bedrohung der Abschiebung aus dem Blick; sie wird schließlich von der Bedrohung durch die (schwarzen) Zuhälter überlagert, denen Djamile mit Thomas’ Hilfe entfliehen kann. Am Ende trifft sie Thomas in Deutschland wieder. Ein versöhnlicher Ausblick, der Thomas für erlittenes familiäres Unrecht mit einer Liebe entlohnt, die sich über Grenzen hinwegsetzt.

Wie in „Die Farbe des Ozeans“ ist auch in „Implosion“ die Erzählperspektive deutsch und weiß; das Thema der illegalen Einwanderung fungiert primär als abenteuerlicher Hintergrund für Thomas’ Protest gegen seine Familie – nicht zufällig ist sein Vater Staatsanwalt. Projektionen und Wunschbilder sind Bestandteil vieler Liebesgeschichten. Sie können das Objekt der Begierde so überlagern, dass nur noch ein Zerrbild der realen Person zu erkennen ist. Das im heiklen Umfeld des angezielten schwarz-weißen „Culture Clashs“ zu thematisieren, wäre eine reizvolle Aufgabe. Doch stattdessen setzen die Filme auf allzu klare Konfrontation gegensätzlicher Welten. Der Blick auf die Bilder hinter den Blicken ist offensichtlich nicht erwünscht. Diese Zurückhaltung ist zwar auch dem berechtigten Argwohn gegenüber parteiischen Sozialdramen geschuldet, spiegelt zugleich aber die weitverbreitete Befindlichkeit eines Landes wider, das sich für Probleme des Postkolonialismus nur sehr bedingt verantwortlich fühlt. Deutschland ist eben kein Mittelmeeranrainerland. Folgerichtig spielen alle deutschsprachigen Flüchtlingsdramen im Lieblingsurlaubsland der Deutschen, Spanien.

Besonders ärgerlich an der Weigerung, mit bekannten Klischees zu brechen, ist, dass die legal in Spanien lebenden Afrikaner die eigentlichen Bösewichter der moralischen Erzählung sind. In „Die Farbe des Ozeans“ verrät der vermeintlich helfende Landsmann aus Geldgier den Flüchtling und verschuldet so seinen Tod. Ein anderer Schwarzer tritt als Dealer auf. Selbst dem rassistischen Guardia-Civil-Polizisten wird nach dem Tod einer Drogenabhängigen eine Konversion gewährt; den in Spanien lebenden Afrikanern aber nicht. Damit werden untergründig die landläufigen Vorstellungen vom kriminellen Ausländer bedient, so als hätte Deutschland keine inzwischen 40-jährige Geschichte als Einwandererland, in der eingewanderte Afrikaner und Deutsche mit afrikanischen Wurzeln das Gemeinschaftsleben mitgeprägt haben.

„Weiße fühlen sich, auch wenn sie sich großzügig geben, den Schwarzen überlegen. Es ist so ekelhaft, wie mitfühlend Leute über Afrika reden“, hat Claire Denis anlässlich ihres Afrika-Films „White Material“ zu Protokoll gegeben. Mitgefühl mit den Gepeinigten dieser Erde ist denn auch die vorherrschende Haltung der Hauptfiguren in „Implosion“ und „Die Farbe des Ozeans“. Allerdings ist die humanitäre Geste, die das Gewissen erleichtert, nicht billig zu haben. Das stellt auch Maggie Peren heraus: in diesem auf die Spitze getriebenen Fall um den Preis eines Lebens.

Hoffnung auf Migration

Die Darstellung der Flüchtlinge als Ärmste der Armen ist nicht nur in vielen Filmen, sondern schon in den Berichten der Nachrichtenmagazine oft herablassend bis ignorant. Sie lässt aus, dass die reelle Armut vieler Länder in Afrika mit den Spätfolgen der Kolonialisierung zusammen hängt, mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten, von denen die westlichen Unternehmen und einige Wenige vor Ort profitieren. Auch wird gerne ausgeblendet, dass es ein afrikanisches „Prinzip Hoffnung“ der Migration gibt, wie es beispielsweise „Espoir voyage“ (2011) von Michel K. Zongo belegt. In der Regel sind die Migranten, die ein Vermögen zahlen, um nach Europa zu gelangen, die Hoffnungsträger größerer Familienclans. Nach einer Studie des Entwicklungshilfeministeriums sind die Geldrückflüsse, mit denen diese Migranten ihre Familien unterstützen, die sogenannten „remittances“, für Afrika wichtiger und sinnvoller als die offizielle Entwicklungshilfe.

Während der aktuellen Wirtschaftskrise ist der Ruf nach Abschottung der südlichen Grenzen in Europa ständig lauter geworden. Das erklärt vielleicht auch die Vielzahl europäischer Flüchtlingsfilme. In Toni Gatlifs Filmessay „Indignados“ (2012) driftet die Flüchtlingsfrau Betty zu den Thesen von Stéphane Hessel durch die Mittelmeer-Anrainerstaaten. Nur bei den Protestbewegungen gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik fühlt sie sich kurzzeitig heimisch. Ein etwas gewollter Kurzschluss zwischen Flüchtlingsgeschichte und dem Aufstand der Arbeitslosen, aber eine klare Stellungnahme, wie sie aus Deutschland bislang weder zu hören noch zu sehen war.

In den klassischen Kolonialländern gibt es inzwischen eine reiche Tradition der vielschichtigen Darstellung von Afrika-Flüchtlingen, schwarzen Einwanderern oder deren Nachkommen; nicht nur in erfolgreichen Kinoproduktionen wie den Filmen von Kaurismäki oder Oliver Nakaches „Ziemlich beste Freunde“, der überzeugend gegen das bloße Mitgefühl die Freundschaft setzt. Eliane de Latours „Les oiseaux du ciel“ (2005) erzählt von zwei befreundeten Liberianern, die ohne Papiere von Spanien aus Europa erobern wollen. Ein Flüchtlingsfilm aus der Perspektive der Flüchtlinge. Der eine wird erwischt und abgeschoben, kämpft in seinem Heimatland Liberia für ein selbstständiges Afrika, gilt aber bei seiner Familie als Loser, weil er es „nicht geschafft“ hat. Der andere kehrt als Held nach Afrika zurück, obwohl er nach vielen gescheiterten ehrlichen Versuchen nur durch Gaunereien in Europa reich geworden ist – ein Film aus afrikanischer Sicht. „Moi et mon blanc“ des burkinischen Filmemachers Pierre Yameogo ist eine der zahlreichen Darstellungen der europäisch-afrikanischen Intereferenzphänomene aus afrikanischer Sicht. Aber er spielt eben zur Hälfte in Frankreich, nicht in Deutschland.

Ein Perspektivwechsel

„Schlafkrankheit“ ist der einzige neuere deutsche Film, der im zweiten Teil einen vergleichbaren Perspektivwechsel wagt. Der schwarze Arzt Alex, der in Paris aufgewachsen ist, kämpft bei seiner Afrika-Mission nicht nur verzweifelt um Anerkennung als schwarzer Franzose. Er ist auch von den Lebensbedingungen in Kamerun komplett überfordert, die ihm fremd und unheimlich sind. Als Schwarzer ist man heutzutage eben selbst im Land der Vorfahren keineswegs zwangsläufig zuhause. Die Gegenfigur in der schwarz-weißen Gemengelage, die der Film ausbreitet, ist der zynische deutsche Postkolonialist Ebbo Velten, den seine Rassismen nicht hindern, Land und Leute zu lieben und Seuchen zu bekämpfen – und gelegentlich den Großwildjäger zu geben.

Diese schillernde Figur führt die unterbewussten Konstellationen der ehemaligen Kolonialmacht Deutschland schmerzhaft vor Augen, die die jüngsten deutschen Filmversuche einer Annäherung an die Effekte der Globalisierung nur bedienen. Nur weil es seit dem verlorenen ersten Weltkrieg keine direkten Protektorate mehr gibt, ist jedoch der Einfluss deutscher Wirtschaft und die Beteiligung an Hilfsorganisationen oder internationalen Geldgeberorganisationen keineswegs geringer als der anderer europäischer Länder. Der wohlmeinende deutsche Gutmensch auf Urlaub mag sich deshalb politisch korrekt und emotional schlüssig verhalten, wenn er in Spanien einem Bootsflüchtling hilft. Und wenn der Flüchtling an der Hilfeleistung stirbt, ist es auch richtig, die Hilfeleistung selbst zu hinterfragen. Eine Stellungnahme zur Globalisierung, wie es in einer Kritik hieß, ist das trotzdem nicht. Denn die Verlegung in das europäische Nirgendwo eines Urlaubssetting bereinigt die Geschichte um das, was die Konfrontation mit Immigrationsverhältnissen in Deutschland hätte zeigen können. Afrika ist nicht nur im fernen Spanien, sondern auch in unserem Alltag stets präsent. Nur die Spanischlehrerin in „Implosion“, die neue Freundin des Vaters, deutet überhaupt an, dass es in Deutschland Migranten gibt. Schwarze Deutsche machen in diesen Filmen ganz sicher keinen Urlaub in Spanien.

Man kann keinem Film vorwerfen, dass er nicht das einlöst, was er sich nicht vornimmt. Höchstens was er sich vornimmt oder, dass er nicht weit genug geht. So verständlich das Mitgefühl für das „Flüchtlingselend“ ist: Filme, die sich der Thematik nur auf der „Mitleidsschiene“ nähern, lassen mehr aus, als sie in ihren schönen Bildern erzählen. Sie scheitern damit wie viele Subsahara-Flüchtlinge schon an der Grenze der Festung Europa.   

Marcus Seibert

Dieser Artikel erschien in FILM-DIENST 10/2012 (10. Mai 2012), Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Redaktion 



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