Freitag, 19. Februar 2010

Waisenkinder

Die Welt der Kinderfilme ist bevölkert mit elternlosen Helden-Figuren. In Ice Age oder Findet Nemo setzt der Tod der Mutter den Abenteuerfilm als Rückkehr zur Restfamilie in Bewegung, die bei Findet Nemo gleichzeitig Lehrgedicht für den bis dahin pädagogisch unterbelichteten Vater ist. Überhaupt scheint Mutterlosigkeit ein wichtiges Kennzeichen der Heldenfiguren von Aschenputtel bis Pippi Langstrumpf zu sein.

Man könnte meinen, die Welt der Kindergeschichten hätte ein Problem mit Frauen, die nur in Gestalt von Stiefmüttern zugelassen scheinen. Aber das Phänomen ist wohl eher eine Folge der Dramaturgie, nach der zum Heldentum die Besonderung und Entwurzelung gehört, die in ihrer extremsten, sofort überzeugenden Form auch heute noch Mutterlosigkeit heißt. Auch wenn die Zahl der sich um ihre Kinder kümmernden Väter zugenommen haben soll, man spricht immer noch von abwesenden Vätern, die entweder viel oder wochentags in einer anderen Stadt arbeiten, sodass sie ihre Kinder nicht oder nur in Randzeiten sehen. Wochenendväter, allein erziehende Mütter, Patchworkfamilien, bei denen die Kinder meist bei ihren Müttern und Stiefvätern leben.

In den Wunschphantasien der Märchen und Kindergeschichten wird die Rückkehr des kindlichen Helden zum Vater, aber auch die Rückkehr des Vaters zum kindlichen Helden als Erfolgsgeschichte mit glücklichem Ausgang inszeniert, gegenläufig zu den wahrscheinlichen Biografien. Die wahren Heiligenlegenden von Moses über Gregorius bis hin zu Peter Pan und Mowgli kennen jedoch den elternlosen Helden, wie er heute in der Babyklappe abgegeben oder zur Adoption freigegeben würde, als Findelkind im Bastkorb, im Schilf, auf Kirchentreppen oder auf feudalen Landsitzen. Einmal elternlos eingeführt, sind diese Helden völlig frei vom Balast psychologischer Determination, den das Zusammenleben mit ihren Erzeugern nach sich zieht, und können den aberwitzigsten Lebensumständen ausgesetzt werden, durch die hindurch sie aus sich selbst heraus und mit Freundeshilfe ihre besondere Bestimmung finden.

Noch einmal Disney: Es ist schon erstaunlich, was 1967, im Vollbewusstsein des Vietnamkriegs, aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch wurde. Was bei Kipling noch als magisch-animistischer Kitsch aufgebaut wurde, um den asiatischen Dschungel als eine Utopie zu beschwören, unter dessen Gesetz das Leben ohne Menschen schöner ist, wird in Hollywood zu militärischem Slapstick. Der Elefant Hati ist hier nicht der weise Älteste der bei Mondlicht tanzenden Tiere, die das Gedächtnis des Urwalds verkörpern, sondern der selbstverliebt schneidige Anführer eines Haufens marschierender Trottel. Auch hier nur Männer. Baghira, Balou, King Louis, Shirkan, die Geier. Die geheime Mission der Hauptfiguren, die auch gut in Uniformen stecken könnten, ist, Mowgli zu der einzig offensiv weiblich, nämlich mit übergroßen Augen und überlangen Wimpern gezeichneten Figur des Films zu bringen: Zu dem Menschenmädchen, dass am Fluss Wasser schöpft. Der Entzug alles Weiblichen, der in Kiplings Roman nicht so angelegt ist, lässt am Ende die Begeisterung Mowglis besser verstehen, macht aber aus dem Dschungel ein Kampffeld undurchsichtiger männlicher Interessen, ein Kriegsgebiet, in dem Frauen nichts verloren haben und dessen Gefährlichkeit durch die Lustigkeit der Slapstick- und Gesangseinlagen, durch die Darstellung echter Kameradschaft kaschiert wird. Die Überlegenheit der Menschen zeigt sich hier, schon in der Romanvorlage, im Einsatz des Feuers, vor dem Mowgli nicht zurückschreckt, um seinen Freund vor dem bösen Tiger zu retten.

Dienstag, 16. Februar 2010

Memoiren

Es gibt in der Familie meiner Mutter eine Neigung, Memoiren zu schreiben. Überliefert sind nicht nur die Memoiren meines Urgroßvaters, der in trockenen Worten sein Leben als Landpfarrer beschrieben hat und Gemeindequerelen vor dem Leser ausbreitet, die heute weder nachvollziehbar noch besonders interessant sind. Mein Großvater hat die Memoirenschreiberei auf das Kapitel seines Lebens beschränkt, in dem er Pfarrer der bekennenden Kirche in Fehrbellin war. Diese Memoiren sind nicht viel mehr als zehn Seiten schwer und fassen knapp und in einer Manier, die an Herbert Wehners Erinnerungen erinnert, die wichtigen Momente dieser politischen Phase seines Lebens in exakter Chronologie zusammen.

Meine Tante hat Memoiren zu ihrer Kindheit als Tochter dieses Pfarrers geschrieben, sowie einen zweiten Band, der sich mit ihrem Werdegang als bildende Künstlerin befasst. So spannend der erste Band zu lesen ist, so wenig packt der zweite, weil man hier vor allem ein Gefühl nicht los wird, das schnell die Lektüre von Memoiren begleitet, sobald sie das Fahrwasser gesellschaftlich relevanter Themenbereiche verlassen, dass hier nämlich jemand sich ernster nimmt, als es noch witzig ist.

Sub specie aeternitatis ist ohnehin das Wenigste wert festgehalten zu werden. Außerhalb des Moments, in dem sich ein Leben abspielt, hat die spätere Erinnerung daran vielleicht dynastischen Wert, vielleicht Unterhaltungs- oder Lehrwert. Dann aber stellt sich bereits die Frage der Formung. Die in Memoiren festgehaltenen Erinnerungen an erlebte Ereignisse sind an sich nicht interessant und niedergelegt nur, sofern die Leserschaft sich ihnen geneigt zeigt, selbst wenn der Mensch, der die Ereignisse erlitt, das anders sieht. Das Bedürfnis Memoiren zu schreiben speist sich vermutlich aus dem Wunsch, nicht alles dem Vergessen zu überantworten, was man selbst einmal wichtig gefunden hat.

In gewisser Hinsicht ist das vermutlich grundsätzlich ein Impuls beim Veröffentlichen. Denn jede Form von Verschriftlichung ähnelt der fotografischen oder filmischen Aufnahme darin, dass es Vergangenes festhält, an Abgelebtes erinnert, auch wenn es erst gestern war. Selbst die Erfindung einer Erinnerung berührt die Leser nur, wenn sie zumindest erfolgreich mit Echtheit kokettiert. Unter jeder Überhöhung liest der Leser das heraus, was er an Bezüglichem lesen will. Das Erzähltempus ist nicht zufällig Präteritum, selbst das Präsens erzählter Texte ist immer schon ein verblasstes, vergangenes. Ein gedruckter oder zum Lesen bereit gestellter Text wurde immer vorher geschrieben.

Der Wunsch zu erinnern ist auch eine Form, Ordnung zu schaffen im eigenen Kopf und im günstigsten Fall auch für das so genannte kollektive Bewusstsein. Aber bei all dem Erinnerten und für die Ewigkeit Verwahrtem bleibt die Unwägbarkeit, was überdauert. Die Mumien sind mit ihrer Entdeckung bereits der Zersetzung schneller preis gegeben, als sie in den Jahrtausenden zuvor in ihren geschlossenen Sarkophagen waren. Texte sind ohnehin flüchtiger, sterben mit den Sprachen ab, wenn diese nicht mehr in dieser Form geläufig sind. Schon jetzt kann man beobachten, dass sich mancher Text aus dem zwanzigsten Jahrhundert nicht nur wegen der schlechten Papierqualität nach dem Krieg zersetzt hat und nicht mehr lesen lässt. Was geblieben ist, wird nicht unbedingt in den Formen aktualisiert, die sich der Autor seinerzeit gedacht hat. Eine Besonderheit der Erinnerung, die posthum zum Glück nicht schmerzt, aber auch zeigt, dass sie strikt gegenwartsbezogen ist.