Donnerstag, 16. Januar 2014

Arbeiter verlassen die Fabrik

Wie das Kino die Arbeitswelt darstellt: 
Der Arbeitsplatz als Konzept des neuen Jahrtausends 


Der Film tut sich seit Beginn schwer mit der Darstellung und dramatischen Einbeziehung der Arbeitswelt. Woran liegt das? Und wie werden sie aussehen, in unserer Wirklichkeit und im Film, die Arbeitswelten des neuen Jahrtausend?
Von Marcus Seibert

Von Harun Farocki stammt folgende Feststellung: In der Filmgeschichte sehe man seit den Gebrüdern Lumière häufiger Gefängnistore, die sich öffnen, als Arbeiter, die durch Fabriktore nach draußen strömen. Die Sympathie gilt den Verbrechern nicht, weil sie sympathischer wären. Die Horrorvision der Arbeitswelt von Fritz Langs „Metropolis“ (1927) – eine überzeichnete Version der Utopien von Ernst Jüngers „Der Arbeiter“ – zeigt, was die industrialisierte Arbeitswelt für die im Selbstverständnis kreative Filmindustrie sehr oft war: eine geistlose Schule der Entfremdung. Nur wenn sie wie in Charles Chaplins „Moderne Zeiten“ (1936) aus dem Ruder laufen, scheinen die Geschehnisse am Arbeitsplatz spannend zu sein.

Nichtsdestotrotz gab es seit der Stummfilmzeit Filmemacher, für die (aus politischen Gründen) die moderne Arbeitswelt der Ausgangspunkt für Geschichten um Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung der neuen Arbeiterklasse waren. Filmhistorisch gab es Wellen, in denen im Kino das „Hohelied der Arbeit“ gesungen wurde: im klassischen Arbeiterfilm der Weimarer Zeit und im Sowjetkino, in den Filmen der DEFA, in der ersten Berliner Schule während der 1970er-Jahre (vertreten durch Regisseure wie Christan Ziewer, Helke Sander und Max Willutzki), seit den 1990er-Jahren im von Margaret Thatcher befreiten britischen Kino.

Im Klassenkampf verwischen die Fronten 

Von was erzählen diese „Arbeiterfilme“? Das Recht auf Arbeit gehört zum Menschsein wie der Arbeitskampf zur Dramatik dieses Genres: Drohende Werksschließung, Unterdrückung der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften, Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit – aus diesem Stoff waren die Kinogeschichten, die in der industriellen Arbeitswelt angesiedelt sind. Von den 1920er-Jahren, als z.B. Sergej Eisenstein in „Oktober“ den Aufstand der Arbeiter gegen ihre Ausbeuter feierte (1927), bis ans Ende des Jahrhunderts büßte der klassenkämpferische Impetus allerdings einiges an Elan ein: Längst wirken die Erfolge im Kampf gegen die Unterdrücker, die der frühe Arbeiterfilm feierte, naiv. Sie sind, nicht zuletzt im britischen Film, symbolischen Kompensationen gewichen. Arbeiter reüssieren musikalisch („Brassed off – Mit Pauken und Trompeten“, GB 1996), im Striptease („Ganz oder gar nicht“, GB 1997) oder im Tanzen („Billy Elliot – I Will Dance“, GB 2000), sie ringen keine kapitalistischen Usurpatoren mehr nieder, die durch die internationalen Trusts zunehmend ungreifbar geworden sind, sondern den inneren Schweinehund. Oder sie finden Ersatz für Arbeit in der Solidarität der Arbeitslosen.

Das Ruhrgebiet als Filmmilieu

Auch im deutschen Kino war das Thema „Arbeitswelt“ zwar selten „Mainstream-tauglich“, wurde jedoch von einigen Filmemachern in den Fokus genommen. Lange Jahre war das Ruhrgebiet die Heimat des aufrechten deutschen Filmproletariers, des lakonischen Kumpels, der für seine Rechte kämpft. Das Ruhrgebiet war eines der westdeutschen Milieus, für das der WDR noch in den 1990er-Jahren Filmstoffe wie „Leo und Charlotte“ (1991) suchte. Adolf Winkelmanns anarchische Ruhrgeschichten hatten zu der Hoffnung Anlass gegeben, einen mythischen Filmort gegen Berlin, Hamburg oder München etablieren zu können, der Herz mit Poletariertum und Dramatik verbindet. Der von Götz George verkörperte „Bulle“ Schimanski, nur sehr bedingt ein Proletarier, ist wohl bis heute die populärste Figur dieses Milieus geblieben. Das Sein wollte diesem filmischen Bewusstsein allerdings nicht folgen: Der allmähliche Untergang der schwerindustriellen Arbeitswelt, die Stilllegung der Zechen und Verhüttungsbetriebe, schlug auf die Mythenbildung durch. In Dokumentarfilmen festgehalten wurden die Schließung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen, auf dessen Gelände ein modernes roboterisiertes Logistikzentrum entstand („Ortswechsel“ von Jens Börner und Winfried Härtl, HFF München, 2002) oder der Abbau und die Verschiffung der Dortmunder Kokerei Kaiserstuhl nach China („Losers and Winners“ von Ulrike Franken und Michael Loeken, 2006). Wieder einmal ein letztes Kapitel schreibt nun der Film „Abseitsfalle“: ein Spielfilm, in dem Arbeiter ihre Fabrik verlassen, klar in Bezug gesetzt zur Schließung des Bochumer Opelwerks (Kinostart: 26.9.). Sie lehnen sich gegen die Rationalisierung des firmeninternen Controllings auf. Erfüllung gibt es aber nur in den gemeinsamen Grillabenden, in den Spielen des Werksfußballteams, dem die Sympathie des Films gilt. Die ultimative Bedrohung ist die Verlegung der Produktionsstätten nach China.

Das Büro als neue Tretmühle

Dass „Abseitsfalle“ mit der Nähe zu den Filmen von Ken Loach und Nigel Cole ohne Beteiligung des WDR zustande kam, ist erstaunlich. Der Sender scheint seine Ruhrgebietsumstrukturierung intern bereits abgeschlossen zu haben: Bestimmte Arbeitswelten werden eben nicht bloß aus Europa verschwinden, wie Michael Glawogger in „Workingman’s Death“ zeigt – sie werden vielmehr ganz verschwinden. Die Forderung nach Befreiung von stupider Lohnarbeit erfüllt die verbesserte Technik der Industrieroboter dank elektronischer Steuerungssysteme so gründlich, dass sie den von entfremdender Lohnarbeit befreiten Malocher arbeitslos macht oder an einen Computerarbeitsplatz versetzt. Der Kumpel aus „Jede Menge Kohle“ (von Adolf Winkelmann, 1981) ist Geschichte. Und die globale Umgestaltung der Arbeitswelt ist nicht durch das aufbegehrende Kollektiv aufzuhalten. Der Proletarier ohne IT-Kenntnisse, der gewohnt war, mit seiner Hände Arbeit das Geld heranzuschaffen, ist auf dem Arbeitsmarkt bundesweit schwer vermittelbar. Dem entspricht die soziologische Beobachtung der Parteienforscher: Durch die Erfüllung der Forderung nach besseren Bildungschancen und vertikaler Mobilität hat sich das sozialdemokratische Milieu teils selbst abgeschafft. Die Arbeiterkinder arbeiten inzwischen in der Verwaltung oder selbstständig und wählen Grün.

An die Stelle von Arbeitern, die ihre Fabrik verlassen, sind seit der Jahrtausendwende immer häufiger Callcenter-Mitarbeiter getreten, was sich auch im Film niederschlägt. So zum Beispiel im Spielfilm „Selbstgespräche“ (2008) von André Erkau (der von denselben Produzenten wie „Abseitsfalle“ hergestellt wurde): neue Büro-Proletarier, die von Zeitarbeitsfirmen beschäftigt werden. Statt der Arbeitssuche am Werktor sieht man die Darstellung von Bewerbungsgesprächen und Schulungen für Bewerbungsgespräche z.B.in Filmen von Christian Petzold („Yella“), Franz Müller („Kein Science Fiction“) und Christoph Hochhäusler („Falscher Bekenner“). Die Idee eines „ethnografischen Kinos innerhalb der eigenen Kultur“ (Farocki) hat zur Finanzkrise den Finanz- und Dienstleistungssektor in den Fokus gerückt. Im Spielfilm „Unter dir die Stadt“ von Hochhäusler (2010) spielen programmatisch Teile der Handlung am Arbeitsplatz Bankbüro. Das Ruhrgebiet scheint seit Peter Thorwarths Kinodebüt „Bang, Boom, Bang“ (1999) nur noch ein riesiges Randgrundstück in einem modernisierten neoliberalen Deutschland zu sein, in dem Medienzentren und Hochtechnologieparks lediglich als Gerüchte in den Siedlungen der wegen Bergschäden abrissreifen Reihenhäuser mit Resopal-Tischen und verkrauteten Vorgärten kursieren.

Macht Arbeit glücklich?

Unter Tage kommt in Deutschland keiner mehr zu Tode. Aber die neuen Arbeitswelten sind deshalb keineswegs die besten aller möglichen. Subversive Überlegungen zum bundesdeutschen Arbeitsleben kamen zuletzt vor allem von Hupe Film (siehe Kasten): „Frohes Schaffen“ von Konstantin Faigle, ein Dokumentarfilm mit Spielfilmteilen, stellt als Collage im Stil von Alexander Kluge den Sinn und Wert der Arbeit um ihrer selbst willen in Frage. Die fröhliche Arbeitslosigkeit als Gegenmodell geriet dabei etwas albern, aber das konterkariert nicht die Kernaussage, wie sehr den Arbeitskämpfen abhanden gekommen ist, wofür die Arbeiterbewegung anfangs eingetreten ist: nämlich nicht für den unbedingten Erhalt entfremdeter Lohnarbeitsplätze, sondern für mehr Freizeit, mehr Erfüllung im Leben und Freiraum im Streben nach Glück. Schaffung und Erhalt von Arbeitsplätzen erscheint in Wahlkampfzeiten und bei Firmenschließungen als Selbstzweck. Aber wofür arbeiten wir jenseits des Lohns? Die Antworten des Films reichen bis zu Richard Sennetts Wunsch einer Wiederbesinnung auf das Handwerk, in dem eine ökologische Nostalgie mitschwingt, die der Realität moderner Arbeitswelten kaum beikommen kann.

Der Dokumentarfilm „Work Hard, Play Hard“ von Carmen Losmann beschreibt, wohin sich die Arbeitsplatzkultur entwickelt hat. Ohne Kommentarebene wird die Arbeit von Arbeitsplatzdesignern, Unternehmensberatern und Personal Coaches gezeigt. Erschreckend wird deutlich, wie weit es in heutigen Arbeitszusammenhängen verbreitet ist, die Firmenideologie mit großer psychologischer Raffinesse in die Köpfe der Angestellten zu pflanzen, sich mit Corporate Identity gegen Arbeitskampf und Wettbewerb zu wappnen. Die puritanische Arbeitsethik hat dazugelernt, so scheint es, und verkauft ihr neues Modell der antrainierten Identifikation mit Firma und Arbeitsplatz als Konzept des neuen Jahrtausends. Das einstige Schreckgespenst von Fritz Langs „Metropolis“ bleibt der Arbeitswelt also im neuen Gewand erhalten. Es bleibt abzuwarten, wie dies im Spielfilm der nächsten Jahre reflektiert werden wird. Arbeiter, die ihre Fabrik verlassen, werden wir wohl kaum noch zu sehen bekommen.

(veröffentlicht im film-dienst 20, 2013)