Montag, 19. Oktober 2015

Wir können auch anders


Kurzes Abschlussstatement zu der Veranstaltung des VDD anlässlich der Cologne Conference 2015 

„Wir können auch anders!“ – Erzähltraditionen im deutschen Film zwischen gestern und morgen

Unter diesem Titel trafen sich auf der Cologne Conference Filmemacher, Autoren, Redakteure und Dramaturgen, um sich ein Bild davon zu machen, wie sich Erzählformen und -genres im deutschen Film nach 1945 entwickelt haben.

Bislang gehörte es zu den unhinterfragten Gegebenheiten der Geschichte der deutschen Erzähltradition im Film, dass vor allem historische Brüche das Geschehen bestimmen: das Oberhausener Manifest als Apokalypse der Adenauer Ära, der deutsche Herbst, der Beginn der Kohl-Ära, die Wiedervereinigung.

Bei genauerer Betrachtung liegen die Schnitte und Brüche aber nie so, wie sich das Epochendenken die Verhältnisse wünscht, wenn es überhaupt diese Brüche je außerhalb der Manifeste und Festlegung von „Tendenzen“ gegeben hat: Die Bedingung des Nachkriegsfilms war die Kontinuität über die Nazizeit hinaus. Filmemacher wie Käutner haben ihre besten Filme vielleicht vor den Zeiten der Bundesrepublik gedreht, jedoch keineswegs ihre letzten. Wie Bloch gesagt hätte, „leider“ sind nicht die politisch korrektesten Umstände die beste Garantie für gute Filme.

Papas Kino hat nach der Totsagung in Oberhausen bis in die siebziger Jahre wunderbar als Unterhaltungskino weiterbestanden und Filmemacher, die durch Besetzung einzelner Schauspieler mit dem geschmähten Kino sympathisierten, wurden abgestraft – Peter Schamoni etwa für Willi Birgel in „Schonzeit für Füchse“.

Die letzten Jahre der Adenauer-Ära waren, was die Experimente mit neuen filmischen Formen anbelangte, wesentlich fruchtbarer, als die Theorie des politisch motivierten Epochenwechsels nahelegt. Vielleicht inspiriert durch die Debuts der Nouvelle-Vague-Autoren oder die italienischen Parallelen entstanden mit „Die Halbstarken“, „Playgirl“, „Mädchen, Mädchen“, „48 Stunden von Acapulco“, „Nicht versöhnt“, „Abschied von gestern“, „Zur Sache Schätzchen“, um nur einige heterogene Filme zu nennen, in wenigen Jahren eine Reihe von schroffen Filmgewächsen, die Hans C. Blumenberg als „kleine dreckige Filme“ später immer gegen die meinungsbildenden Großproduktionen von Kluge, Fassbinder, Herzog und Schlöndorff verteidigt hat.

Viele dieser schroffen Jungregisseure von 1966 haben über 1970 hinaus ihren Stil nicht weiterentwickeln können. Viele wurden wegen der Freizügigkeit und Radikalität in Inhalt und Form in Grund und Boden verrissen, bevor die Einflüsse von APO und Flower Power das Klima veränderten. Roger Fritz kam bei der Veranstaltung zu diesem Thema zu Wort. Die Diskussion mit Roland Zag bewies: Noch immer ist offen, ob seine Erzählexperimente als gewaltsame Stunde Null der Dramaturgie zu verstehen sind, die von rebellischen Söhnen und Töchtern alter Nazis ausgerufen wurde oder eher als kalkulierte kühle Antidramaturgie gegen das etablierte Unterhaltungskino.

Dominik Graf brach eine Lanze für die, die nach ihren Teilerfolgen in Deutschland ihr Glück im Italowestern, in Mafiafilmen und anderen B-Movie-Genres gesucht haben. Heute wäre die Präsenz deutscher Schauspieler und Regisseure in Italien nicht vorstellbar. Das Fazit der Recherchen von Johannes Sieverts und Graf in ihrem Film „Verfluchte Liebe deutscher Film“: Diese B-Filme sind erstaunlicherweise meist noch zugänglich, aber schon kurz nach der Vorführung sind viele für immer in den Archiven verschwunden. Der deutsche Filmselbsthass hat auch hier viele Türen zugeschlagen.

Die Herstellung einer eigenen deutschen Filmgeschichte war bei fast allen Teilnehmern der Diskussionen die Voraussetzung für ihre Filmarbeit. Doris Dörrie fand über die Siebziger und Sechziger hinweg in den USA Billy Wilder und Ernst Lubitsch, überhaupt die ins Exil getriebenen oder ermordeten Filmemacher der Weimarer Zeit. Lubitsch ist in Deutschland immer noch viel zitiert aber auch vielfach unbekannt geblieben – eine späte Rache an den Emigrierten. Adolf Winkelmann dagegen fand „Zur Sache Schätzchen“ ärgerlich unpolitisch und suchte zwischen Schlöndorff und dem Heimatfilm einen Platz für eine neue Ruhrgebietskomödie, nachdem er keine Experimentalfilme mehr drehen wollte.

Anderthalb Generationen später: Dietrich Brüggemann setzt sich von der Berliner Schule ab, die ihrerseits gegen die Münchener Beziehungskomödie aufbegehrte und Kluge und Farocki als Schutzpatrone benannte. Bei Brüggemann und Schomburg offensichtlich: Für die Generation, die das Entstehen des Privatfernsehens nicht als Untergang der Welt erleben konnte, in der sie sozialisiert wurden, ist die Barriere zum Fernsehen spätestens gefallen, überhaupt ist die alte leidenschaftliche Diskussion darüber, was ein Fernsehfilm sei und was ein Kinofilm, kaum noch nachvollziehbar.

Doris Dörrie brachte mit ihrem Plädoyer für die Story, das Geschichtenerzählen und die absolute Verpflichtung, nicht zu langweilen, die interessanteste erzähltechnische und über mehrere Panels geführte Diskussion in Gang. Denn die heute jüngeren Filmemacher reagierten teils allergisch auf diese Forderungen, die zu linientreuen, aber erzählerisch langweiligen, dramaturgisch perfekten, aber uninspirierten Filmen geführt habe (Dominik Graf in seinem durchaus positiven Statement zu Tim Fehlbaum: „’Hell’ ist leider total überentwickelt worden. Seine Filme an der Uni waren besser“).

„Überentwicklung“ durch Dramaturgieworkshops und professionelle Geschichtenentwicklungsstrategien hat auch zur Folge, dass die kreativen Abweichungen es heute schwer haben sich durchzusetzen. In den Fragen von Brüggemann und Schomburg: Was ist eine Geschichte? Was ist langweilig? Das kann doch alles sein! Brüggemann: „Künstlerische Freiheit muss man sich nehmen.“ Die Kategorien Story, Langeweile, Emotion und Relevanz sind keine objektiven Kategorien filmischer Stoffe. Das sind ästhetische Kampfbegriffe, die zur Waffe gegen das interessante Erzählen werden können. Nur wohin das Erzählen geht, scheint heute, so jedenfalls die jungen Filmemacher auf dem Podium, unklarer zu sein, als in Zeiten sicherer Feindschaften und Manifeste.

Der deutsche Film ist jedenfalls nach diversen Totschreibungen sehr lebendig, in mehreren parallel arbeitenden Generationen, mit großer Vielfalt der Einzelerscheinungen. Es blieb der etwas ratlose Wunsch, dass nicht nur das Publikum im Ausland, sondern auch das deutsche das bemerkt.

Marcus Seibert


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