In dem kleinen unscheinbaren Aufsatz „Das Drehbuch, eine Struktur,
die eine andere sein will“ hat Pasolini 1965 die erstaunliche Behauptung
aufgestellt, dass ein Drehbuch, vor seiner Umsetzung in einen Film
betrachtet, als „autonome Struktur“, nicht nur bereits das Versprechen
auf einen zu drehenden Film enthält, sondern aufgrund seiner Struktur
den Film selbst. Die Zeichenstruktur des Drehbuchs enthält demnach
bereits visible Elemente, „Kineme“, wie Pasolini das in Anlehnung an die
strukturalistische Theorie des Phonems genannt hat. Deren Aufscheinen
ist abhängig von der speziellen Technik des Drehbuchschreibens.
Charakteristikum des Drehbuchs ist, dass es Durchgangssyndrom des Films
selbst ist und zwar als „Übergang vom literarischen zum
kinematografischen Stadium“, was sich bereits in seiner autonomen
Struktur und in den Abweichungen vom Literarischen, manifestiert.
Als
„Struktur die eine andere sein will“ zielt das Drehbuch, anders als
Literatur, die ihren Zweck in sich selbst findet, auf den nach ihm zu
drehenden Film. Man kann einwenden, dass Theaterstücke auch nur
geschrieben werden, um vor Publikum aufgeführt zu werden, aber die
Umsetzung des geschriebenen Textes in der Theateraufführung folgt nicht
nur Mustern der oralen Tradition des lauten Lesens, sondern zielt vor
allem nicht auf eine andersartige Struktur als Ergebnis der Aufführung.
Jede Aufführung ist wieder anders und gemeinsam ist allen die Struktur
des Stücks. Der Film tritt aber als Struktur durch die Verfilmung an die
Stelle des Drehbuchs, ersetzt es und enthält eben ein Mehr, das weit
über die Freiheiten von Inszenierung und Szenenbild im Theater
hinausgeht. Und das gilt auch für Filme, die strikt das zugrundeliegende
Drehbuch umsetzen.
In der Frühzeit des Tonfilms war
das Theater der Feind, der den Film hinter die strukturellen
Errungenschaften des Stummfilms zurückfallen ließ. Von dieser Ablehnung,
die auch die Nouvelle Vague noch antrieb, ist ein starker Reflex
geblieben. Es gibt zwar kein Gesetz, das Theaterstücke als Vorlage von
Filmen verbietet. Viele Theaterstückverfilmungen bleiben trotzdem
unbefriedigend, weil die Bestimmung der Besonderheit immer eine der
Differenz zur Vorlage ist, der Film also zwangsläufig in Konkurrenz zu
anderen Aufführungen tritt, statt ganz bei sich zu bleiben. Dazu kommt,
dass Theaterstücke deutlich mehr auf Dialog setzen müssen, als das im
Film erforderlich ist. Screwball-Comedies kann man zwar gut auf die
Bühne bringen, in letzter Zeit wurde das sogar mit Kyszlowskis Dekalog
versucht, Stummfilme widersetzten sich jedoch der Bühneninszenierung,
widersprachen ihr sogar prinzipiell, nicht im Sinn der Pantomime sondern
des Sprechens der gezeigten Orte und der sich darin bewegenden
Menschen. Hier zeigt sich, dass der Mehrwert des Films entschieden mit
den speziellen Möglichkeiten der Kamera und des Schnitts zusammenhängt,
wohingegend das Verhältnis Zuschauer/Bühne sich nur bedingt
flexibilisieren lässt, auch im Kino übrigens, in der sogar die
Interaktion in Richtung Leinwand ausgeschlossen ist. Film kann aber
durch die Kamera den Abstand zum Zuschauer beliebig variieren, kann
Zeitsprünge vornehmen, Orte und Zeiten durch den Schnitt wechseln.
Manches davon kann auch der Theatertext, aber die Wechsel sind, weil die
Materie des Theaters reale Menschen auf realen Bühnen sind, weder
Achsensprünge noch Ellipsen.
Die Generation der
Filmemacher, die im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts geboren
wurde, sah ohnehin eher im Roman ein dem Film verwandtes Genre. Pasolini
selbst hat seine Filmkarriere wie diverse Nouvelle-Vague-Regisseure
zwar als Drehbuchautor begonnen, seinen ersten Film „Accatone“ aber nach
dem gleichnamigen eigenen Roman gedreht und später diverse Romane
adaptiert. Visconti und Rohmer haben sich zeitlebens als gescheiterte
Romanautoren gesehen, Antonioni, René Clair und viele andere haben neben
ihrer Filmarbeit Kurzgeschichten geschrieben. Bei keinem Filmemacher
gibt es so viele Romane im Bild wie bei Godard, der in Randbemerkungen
immer wieder bedauert hat, nie Prosa geschrieben zu haben. Die Feinde
waren die umgeschulten Theaterautoren der Boulevard-Theater, nicht die
Romanciers. Die neorealistische Schreibweise der von den Filmemachern
bewunderten Autoren wie Faulkner ist wiederum ohne die Einflüsse des
Films nicht denkbar: Neutrale Erzählperspektive, Häufung der
Beschreibungen von Alltags-„Petitessen“, die in der französischen
Romantheorie seit Diderot als Kennzeichen realistischer Darstellung
gefordert werden, das Eindringen von Umgangssprache in die Romandialoge,
all das sind Indizien für in Prosa kopierte Techniken der
Filmerzählung, die die narrativen Strukturen der Romane unterwandern,
oder zumindest ein gleichlaufendes Interesse an einer Wirklichkeit, die
als Widerstand gegen ästhetische Überformung ernst genommen wird. Der
Begriff „cinéma d’auteur“ zeigt in seinem Pathos sehr genau, welcher
Stellenwert dem Autor als Erfinder einer quasi romanhaften narrativen
Struktur zugedacht war.
Pasolini stellt in seinem
Aufsatz allerdings die Behauptung auf, dass die filmischen Elemente dem
Drehbuchtext über die Bedeutungsseite der Drehbuchzeichen, die Kineme,
im Unterschied zur Prosa immanent sind. Der Drehbuchtext ist Teil der
Schriftkultur, andererseits aber Teil der Filmsprache. Zwar ist das
Drehbuch nicht in der Lage, die reale Welt, die im Film abgebildet
werden wird, zu antizipieren, aber die filmische Bedeutung dessen, was
gezeigt werden wird, können die Textpassagen des Drehbuchs gleichwohl
schon vollständig ausbilden, weil der Text dynamisch auf den nach ihm
herzustellenden Film hinzielt und Worte strikt in diesem Sinne
verwendet. Es geht Pasolini nicht um die ohnehin fragwürdige Theorie
einer möglichen Übertragung innerer Bilder in Text, egal wie wichtig der
entsprechende Versuch für Regisseure sein mag, die ihre eigenen
Drehbücher verfilmen. In diesem Text geht es auch nicht um die
gesellschaftliche Relevanz der Filmkunst, obwohl die Wirkmöglichkeit des
Drehbuchtextes vermutlich eher in diese Richtung gelesen werden muss.
Wenn
in der Regieanweisung bestimmte Blicke der Kamera auf die Sachwelt oder
Darsteller vorgesehen werden, geschieht das in Sätzen, die nur
oberflächlich gesehen Teil der sonst geschriebenen Sprache sind, für den
– eingeweihten – Leser aber erschließt sich eine filmische Bedeutung,
die jenseits eines literarischen Symbolismus liegt. Kamerawinkel,
Einstellungsgrößen, bestimmte vorgedachte Bewegungen sowohl der Kamera
als auch der Darsteller sind bereits im Drehbuch bedeutsames Vokabular
einer eigenständigen Filmsprache. Und sie zählen zur späteren Struktur
des Films und dem, was als seine Bedeutung gelesen wird. Der Versuch, in
Dreharbeiten die adäquaten bewegten Bilder zu einem Drehbuch zu finden,
ist demnach nicht Ausweis einer sklavischen Abhängigkeit von einer
besonderen Form von Prosa, sondern die beste Möglichkeit, vorbedacht
filmische Bedeutung überhaupt entstehen zu lassen. Und noch die
Abweichung vom Drehbuch ist nach dieser Theorie Teil des Drehbuchs, wenn
sich herausstellt, dass der Text des Drehbuchs das anvisierte Kinem
eines dynamischen filmischen Ausdrucks zwar vorsieht, aber in den
genannten Mitteln verfehlt. Man kann soweit gehen zu sagen, dass nach
Pasolinis Überlegungen ohne eine Drehbuchstruktur, die auf einen nach
ihr zu drehenden Film zielt, Improvisation Filmbedeutung schädigt. Erst
als Widerstand gegen ein Buch kann sie zur Erfüllung des Angedachten
beitragen. Alles andere ist im Sinne einer strukturalistischen Theorie
der Bedeutung beliebig.
Die Theorie des Kinems scheint
der Versuch gewesen zu sein, der Theorie eines „cinema di poesia“, dem
Kernstück von Pasolinis Theorie eines cinematografischen Lyrismus einen
quasi wissenschaftlichen Unterbau zu verschaffen. Im Unterschied zur
poetischen Lesart des Kinos hat nie jemand, auch Pasolini nicht, die
Theorie der Kineme weiter verfolgt. Überlegungen wie die Pasolinis sind
eher später in Theorien zum Begriff der Filmsprache aufgegangen, die den
Begriff der Sprache allerdings mehr in Analogiebildung verwenden.
Meines Wissens nach ist aber nie jemand so weit gegangen, den
Drehbuchtext selbst bereits als Teil der Filmsprache zu interpretieren.
Die Erfahrung vieler Filmemacher war offenbar mit dem
selbstverständlichen Autorengestus Pasolinis nicht kompatibel, der hier
eigentlich das theoretisch zu begründen versucht hat, was der Begriff
des Autorenfilmers mal hat meinen sollen.
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