Ein Interview mit Denis Côté war neulich in Revolver. Bislang hatte ich noch keinen seiner Filme gesehen. Schon deshalb hat mich „Vic et Flo ont
vu un ours“ interessiert. Aus Kanada kamen zuletzt immer wieder ungewöhnliche
frankophone Filme. Die Synopsis klang zwar nur mäßig interessant, aber
der Titel ist witzig – allerdings nur auf Französisch. „Avoir vu le
loup“, also den Wolf gesehen haben, heißt, man hatte zum ersten Mal Sex, hat seine
Unschuld verloren. Und „être un peu ours“ – ein Satz der auch im Film
fällt – heißt eigenbrötlerisch sein, „avoir ses ours“, seine Tage haben.
Dass hier mit Vic eine Frau mit dem Urteil lebenslänglich vorzeitig
entlassen wird, ist bereits ein Signal. Es muss Mord gewesen sein, die
Protagonistin lässt sich aber im Folgenden höchstens Ruppigkeiten gegen
ihren paralysierten Onkel, die gemeinen Nachbarn oder den distanzlosen
Sozialhelfer zu Schulden kommen. Ihre Freundin ist bi, der Sozialhelfer
schwul – Vic erinnert ihn an seine Mutter – und da alle wichtigen Aktiva
weiblich sind, ist auch die Böse eine Frau, mit der Flo eine Rechnung
offen hat – welche, bleibt offen. Klar ist aber, wer einmal aus dem
Blechnapf aß, die ist auch in Kanada und einem weitreichenden
Sozialsystem nicht davor sicher, von dem eingeholt zu werden, vor dem
sie in den Wald geflohen ist. Der Wald verspricht Menschenleere, Bären,
Einsamkeit. Aber selbst in Kanada entkommt man der Gesellschaft nicht,
weder der bürgerlichen fieser Nachbarn noch der kriminellen, die erst am
Ende zeigt, dass sie sogar noch fieser sein kann.
Vieles wirkt in diesem Film eher gut gefunden als erfunden: die Gruppe Rennradfahrer, die aus dem Wald auftaucht und wieder verschwindet, das Elektroauto eines Golfplatzes, mit dem Vic und Flo durch die Gegend fahren, der Nachbarjunge mit seinem ferngesteuerten Helikopter, die Waldszenen, das Eisenbahnmuseum voller rostiger Lokomotiven, die trostlose Bar. Spätestens die Cartrennbahn weist darauf hin, dass hier mit System Orte und technische Embleme für gegenläufige (männliche) Lebensentwürfe versammelt sind, die in ihrer Disparatheit darauf hinweisen, wie disparat gesellschaftliche Zusammenhänge sind, wenn die Abgrenzung über technische Attribute erfolgt, die in dem Film wie Hundeduftmarken und immer als Aggressionen und Teil männlichen Revierverhaltens in Erscheinung treten. Altmodisch normal und friedlich scheint in diesem Panoptikum menschlicher Abgrenzungen, eigentlich nur die Ex-Gefangene leben zu wollen.
Sicher ist das nicht der vollendete Film des Jahres, aber ein Hinweis, wie man mit einfachen Mitteln jenseits der Dardennes und Ken Loach ein Sozialdrama entfalten kann, das noch die Zweifel am eigenen Genre reflektiert.
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