Mittwoch, 20. Februar 2013

Dauer als Qualität

In ihrer abschließenden Besprechung der Berlinale und der Preisvergaben ("Ein kleines Wunder am Potsdamer Platz") hat Cristina Nord in der taz am Montag an entscheidender Stelle Jacques Rancière zitiert. „Der Realismus setzt Situationen, die andauern, gegen Geschichten, die verketten und immer schon zum nächsten übergehen.“ Sie untermauert damit ihre Kritik an Tanovics Film „Epizoda u zivotu beraca zeljeza.“ Dem „fehlt jedes Gespür dafür, dass es einer gewissen Dauer bedarf, um prekäre Lebensumstände filmisch zu erschließen.“

Ich habe den Film nicht gesehen und nach der Kritik von Cristina Nord weiß ich auch nicht, ob ich ihn mir noch ansehen werde. Trotzdem ist mir das Rancière-Zitat und die Argumentation gegen den Film hängen geblieben. Vielleicht, weil die Sätze so in Stein gemeißelt daherkommen: Der Realismus setzt... es bedarf einer Dauer... prekäre Lebensumstände erschließen. 

Das sind Formulierungen, die manifestartig eine ästhetische Position festschreiben, in der dem Begriff Realismus in Koppelung mit dem der Dauer ein zentraler Platz eingeräumt wird. Eine Art „Augenblick verweile doch, du bist so schrecklich“ scheint da eingefordert. Und bei Rancière wird das Plädoyer für diese Ästhetik des Hässlichen noch um eine Absage an den Plot, an die Idee der Erzählung verlängert. Von Film wird demnach die insistente Darstellung prekärer Lebensumstände erwartet, die der Ausbreitung von Situationen den Vorrang gibt.

Ein klares Statement für das Dokumentarische gegen das so genannte Fiktionale im Film, ein Statement, das als ästhetische Position weder besonders neu noch eine Einzelmeinung ist, weil es seit mehr als fünfzig Jahren zur Standardausstattung des engagierten Filmbetrachters gehört. Auch das Manifest-Heft von Revolver wimmelte von Bekenntnissen zu einem persönlichen, eigenen, echt gefühlten oder authentischen Film, zu einem methodischen Realismus, der sich seit den Publikationen der Nouvelle Vague mit Bezug auf den italienischen Neorealismus, in den Ansätzen der filmkritik oder PR-Kampagnen wie dem Dogmafilm regelmäßig erneuert.

Dagegen ist auch wenig einzuwenden. Wer stellt sich schon hin und erklärt, die eigenen Filme wollten nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben? Abgesehen davon, dass die Pose einer solchen Aussage den Inhalt sofort konterkarieren würde: Die Forderung, der Film soll mit der Wirklichkeit zu tun haben, ist trivial. Bazins wichtige Grunderkenntnis war, dass es zu den onthologischen Bedingungen des Films gehört, ein Abbild von etwas zu sein, das man gewöhnlich als Realität bezeichnet. Das gilt sogar noch für den Animationsfilm und die dort hergestellten Welten, die stets verzerrte Kopien der einzig wirklichen sind. So sehr Bazins Feststellung einen nicht abschüttelbaren Bezug des Films auf das abgebildete Andere des Lebens herstellt, so sehr setzt er damit auch die Nichtidentität. Als Kunstform, die freizügig mit diesen Abbildern operiert, bleibt Film stets realitätsfremd oder anders gesagt, enthält Realität nur verfremdet. Einem Film fehlenden Realismus vorzuwerfen, ist demnach in erster Linie ein politisches Argument.

Kriterium für Realismus ist nach Rancière/Nord die Dauer von Situationen. Eins der filmischen Mittel der Wahl ist seit jeher die Plansequenz, die lange, ununterschnittene Einstellung. Doch ist deshalb der Schlagabtausch von Julie Delpy und Ethan Hawk in Before Midnight realistischer als andere Gesprächssituationen? Ist Russian Ark demnach ein guter Film? Plansequenzen wie am Anfang von Touch Of Evil oder Hanekes Code – inconnu sind die artifiziellsten Filmerzeugnisse, die man sich denken kann und eher Beispiele für die strenge Durchstrukturierung einer Realitätsfiktion. Setzt man gegen diese Szenen, „die verketten und immer schon zum Nächsten übergehen“ Szenen, in denen man einer Figur zusieht, wie sie sich beide Schuhe zuschnürt, sich einen Mantel anzieht und dann erst die Wohnung verlässt, wie sie sich vom Wasseraufsetzen bis zum Nachfüllen des Filters Kaffee kocht, so ist der Gewinn sicher die Geste, mit der der Zuschauer gewissermaßen an den Tisch gebeten wird. Er soll in eine Situation verwickelt werden, die ihm bekannt ist, um mit Fremdem zu sympathisieren. Im schlechtesten Fall geht diese Operation der Dauer auf Kosten der Innenspannung einer Szene, anders formuliert: Ich sehe solche Szenen, spüre den Zweck – und oft genug nur den – und bin verstimmt. Nur selten gelangen solche Einstellungen wie die Schlussbilder von Johan van Keukens "De grote Vakantie" – gedreht als eigener Abgesang aufgrund der Krebserkrankung –, in denen man Schiffe auf dem Rhein im Gegenlicht glitzern sieht, zu einer das Abbild übersteigenden Bedeutung, dann aber auch, weil der durch den Film ausgebreitete Hintergrund stark genug ist, die Darstellung das Dargestellte transzendieren zu lassen.

Plansequenz ist gleichbedeutend mit Verzicht auf Montage. Gerade im Schnitt liegen aber Möglichkeiten, Situationen zu verlängern und durch Insistenz zu verstärken. Doch wo ist hier die Abgrenzung zu Verkettung und Übergang? Der Fluss, den der Schnitt künstlich herstellt, etabliert per se eine scheinbar logische Abfolge, gleichgültig, ob konfrontativ Achsensprünge, Orts- und Zeitwechsel oder vekettend Bildübergänge geschnitten werden. Sicher, wenn auf den Blick nach oben die Subjektive in die Baumkronen folgt, wenn mit Betreten des Hauses die Kamera von der Rückansicht von außen in die Frontalsicht der Hauptfigur von innen springt oder Gespräche als gestaffelte Zweier mit Frontalansicht beider Gesprächsteilnehmer aufgenommen werden und der Sprung in Schuss/Gegenschuss erfolgt, sobald sich die vordere Person umdreht, dann folgt das Schnitt-Konventionen, die für jeden Schnitt einen Auslöser brauchen, den Film als logische Kette von Einstellungen gliedern, in der Übergänge gefühlt unsichtbar sein sollen, obwohl die Mittel greifbar künstlich sind. Doch selbst, wer diese Konventionen unterläuft, wird nichts dagegen ausrichten können, dass die Abfolge der Einstellungen in einem Film als logisches Kontinuum wahrgenommen wird, selbst wenn der Bruch zum Stilprinzip erhoben wird. Und noch die stilisierteste, artifiziellste Auflösung einer Szene kann dem Bedürfnis folgen, sie besonders intensiv und damit in überhöhter Form realistisch darzustellen, gewissermaßen nach dem „Durchgang durch das Unendliche“ wie Kleist das in seinem Aufsatz über das Marionettentheater nennt.

Die Insistenz auf Situationen, die Dauer allein schafft keinen guten Film, genau so wenig wie das Vertrauen auf einen ausgefeilten Plot mit schnellen Wendungen. Die Situationen müssen stark und bedeutsam genug sein, um die Dauer tragen zu können und sie müssen überzeugend gestaltet sein, auch in ihrem Zusammenspiel. Auf der Berlinale gab es zahlreiche Beispiele, in denen das nicht gelang, zum Teil auch, weil die Filmemacher sich zu sehr auf die schiere Abbildung, die Wirkung des Bildes verlassen haben, zu wenig über die hinter diesen Bildern erzählte Geschichte nachgedacht haben. Und damit meine ich nicht das, was sich in zwei Sätzen pitchen lässt. So berechtigt die Unzufriedenheit mit am Reißbrett geplotteten Filmen ist, bleibt Film eine erzählerische Kunstform, die viele Mittel der Realitätsfiktion zur Verfügung hat, um den Zuschauer für das zu interessieren, was sie uns in der der Kunst eigenen Mischung aus Abbild und Konstruktion als Kette von Situationen ausbreitet. "Es gibt kein Richtiges im Falschen" so könnte man Adorno gegen Rancière aufstellen. Die im Feuilleton ausgebreiteten Dichotomien zeugen von filmpolitischen Lagerkämpfen, die mit der Tauglichkeit von Filmen nur wenig zu tun haben, denen die Kritik ein Korrektiv sein will. Ich bin jedenfalls für einen Realismus der starken Situationen, der das "gut Erzählte" nicht aus dem Blick verliert, für Filme, die sich der Dauer genau so bedienen wie der Elipse, des Bruchs, der Stilisierung und der Verkettung, um ihr Ziel zu erreichen. Wenn man das Gespür dafür nicht verliert, was man macht, wenn man es so macht, ist beim Filmemachen jedes Mittel recht.

Keine Kommentare: