Die Kritik hat sich immer schon damit abfinden müssen, dass die Filmemacher nicht so wollen, wie man sich das erhofft. Das Verhältnis ist angespannt. Eric Rohmer hat das sarkastisch auf den Satz gebracht: "Es ist normal, wenn sich ein Kunstkritiker als Prophet versucht, weil es streng genommen seine Aufgabe ist, Geldanleger zu beraten." Zum Beispiel die Käufer einer Kinokarte. Wie seinerzeit mit der "Nouvelle Vague" geht es derzeit offenbar einigen Kritikern, die ihre Hoffnungen auf einen Neuanfang des deutschen Kinos auf den Begriff der "Berliner Schule" gebracht haben: Sie finden sich um Illusionen betrogen, die sie sich gemacht haben. Spürbar ist eine Ungeduld, die weder den Produktionsbedingungen noch den gelungenen Filmen aus dem Umfeld gerecht wird.
"Berliner Schule" brachte von Anfang an ein reales Phänomen auf den Punkt, auch wenn es sich im strengen Sinne nie um eine Schule gehandelt hat. Das Netzwerk ersetzte die nicht vorhandene Tradition, trug über das an Handwerksschulung hinweg, was die Filmhochschulen nicht leisten konnten oder wollten. Bestimmend sind ähnliche ästhetische Abneigungen und Vorlieben. Nahezu jeder, der zur Gruppe gezählt wird, hat sich im Zentralorgan der Gruppe, der Zeitschrift "Revolver", schon einmal zu seiner Art Filme zu machen geäußert. Die Neigung dieser Filmemacher zum künstlerischen Manifest ist ein Plädoyer fürs Kinomachen als eine intellektuelle Herausforderung, die Reflexionen auf die Form einschließt und nicht als Verlust an Wirklichkeit ansieht. "Die eigentliche Arbeit des Filmemachens liege im Denken, sagt Chaplin", war dem ersten "Revolver"-Heft als Motto voraus gestellt. Auf dem Cover, kaum erkennbar, Fassbinder mit Revolver.
Der Gegensatz zum ängstlich auf Alleinstellung bedachten Herumwurschteln des Originalgenies ist genauso programmatisch wie die Ablehnung der Münchner Komödie und allem, was darauf folgte. Der Hang zu bürgerlichen Sujets, der keineswegs durchgängig ist, entstammt der Abneigung gegen das romantisierende Sozialdrama, dessen Klischees einer auktorialen Erzählung des Politischen vermieden werden, je entschiedener die politische Aussage gesucht wird. Diese Art, Kino zu machen, ist in ihrer Kompromisslosigkeit bei den deutschen Produktionsbedingungen gefährlich. In Deutschland ist es immer einfacher, einen ersten als einen dritten Film zu drehen. Budgets für Debütfilme sind bei Sendern und Stiftungen reichlich vorhanden. Der Reiz des Neuen verbindet sich hier mit dem der Nachwuchsförderung, mit der man sich schmücken kann. Es gibt immer wieder etwas zu entdecken, und nach einem gelungenen Debüt winkt oft ein zweites Projekt. Haben sich dann die Erwartungen der Geldgeber nicht alle erfüllt, wartet ja jederzeit eine neue Generation, die vielleicht neue Hoffnungen nährt. Genau in dieser gefährlichen Situation des dritten Films befinden sich derzeit zahlreiche der Filmemacher, die der "Berliner Schule" zugerechnet werden. Anerkennung im Ausland und Festivalpreise gehen mit handfesten Problemen einher Gelder für den nächsten Film zu akquirieren.
Von Christoph Hochhäusler, dem programmatischen Kopf von "Revolver", waren bislang zwei Filme im Kino zu sehen. "Milchwald" im Jahr 2004, einige Monate nach dem Filmstart in Frankreich, zuletzt "Falscher Bekenner" im Jahr 20006, wobei letzterer ohne Fördergelder von Heimatfilm auf eigenes Risiko produziert wurde, aber sogleich in Cannes in der Reihe Un certain régard zu sehen war. Erst 2009 gelang es Hochhäusler, einen dritten Langfilm zu drehen, "Unter dir die Stadt" (Kritik in dieser Ausgabe). Auch der lief in Cannes, 2010 als einziger deutschsprachiger Beitrag der "Sélection officielle", und kommt jetzt, nachdem er in Frankreich erfolgreich lief und nahezu zeitgleich in den Benelux-Ländern die Kinos erreicht, auch in deutsche Kinos. Zuvor war schon Hochhäuslers vierter Film, "Eine Minute Dunkel", als Teil der Fernseh-Trilogie "Dreileben" auf der "Berlinale" zu sehen (vgl. fd 06/11).
Man fragt sich allerdings, was es dem deutschen Verleih so schwer gemacht hat, den Film ins Kino zu bringen? Und wieso einer recht umfangreichen Würdigung in französischen Zeitungen nichts Vergleichbares in der deutschen Presse gegenübersteht. Ging es schon in "Falscher Bekenner" um das Gedankenspiel eines Jugendlichen, als Verbrecher zu erscheinen, obwohl er es nicht ist, sich zur Hauptfigur einer sexuell abenteuerlichen Fantasiewelt zu machen, an der er nicht einmal als Voyeur Teil hat, so sind die Hauptfiguren von Hochhäuslers neuem Identitätsdrama bereits einige Lebenserfahrungen und Winkelzüge weiter. Erfundene Lebensläufe und Erinnerungen sind routiniert eingesetztes Spielmaterial im Machtkampf der Geschlechter. Hinter den stets Dinge vorspiegelnden Glasfassaden der Frankfurter City versuchen die Protagonisten, ihre Gefühle zu unterdrücken, um nicht deren Opfer zu werden. Gierig stürzen sich die beiden zentralen Figuren auf Zufälle, die ihrem Leben neue Wendungen, ein neues schützendes Imago bescheren könnten. Der von beiden Seiten lustvoll herbeigeführte Identitätsverlust, die Intensität des erotischen Gerangels in Einkaufspassagen, Luxuslimousinen und Hotelbetten, zeigt, was unter der Oberfläche brodelt. Der Großbankier Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) setzt Karriere, Ehe und Ansehen gerade in einer heiklen Phase des Bankengeschäfts aufs Spiel, weil die Amour fou zur Ehefrau eines Untergebenen alles in Frage stellt, worauf er bislang glaubte, seine Identität gründen zu können. Der Argwohn, hinter der glänzenden Fassade, die er über Jahre kultiviert hat, längst leer zu sein, verschärft sich mit der Leidenschaft.
Svenja Steve, die Frau des Untergebenen, sehr lässig und überzeugend gespielt von Nicolette Krebitz, läuft schon am Anfang einer Frau hinterher, nur weil sie die gleiche Bluse trägt, um dann angewidert festzustellen, dass der Versuch, in ein anderes Leben einzutauchen, bereits mit der Wahl des Zuckerkringels beim Bäcker um die Ecke scheitern muss. Ihre Haltlosigkeit wird durch die fremde Stadt, in die es sie verschlagen hat, ihre eigene Desillusionierung und die scheinbaren Zwangsläufigkeiten der Karriere ihres Mannes forciert, der sie nur Hochstapelei entgegen zu setzen hat. Wie in der Geschichte von König David und Betseba steckt hinter der Beförderung des Ehemanns nach Indonesien Cordes, der sich auch noch mit der Working-Class-Biografie eines Toten schmückt, um bei Betseba/Svenja zu punkten.
Brillant setzt das Drehbuch, an dem der Romanautor Ulrich Peltzer beteiligt war, den fortschreitenden Selbstbetrug der Akteure in Szene, findet Dialoge für die verminte Kommunikation in Liebesdingen und trifft dank ausgiebiger Recherchen den Ton im Büroalltag einer Großbank. Bernhard Keller als Kameramann findet die entsprechenden beiläufigen und doch genau kalkulierten Bilder zu einem ungewöhnlichen Schauplatz, die keine Sekunde darüber im Unklaren lassen, welche Höhenniveaus der Macht mit dem Aufzug erreicht und verlassen werden. Wenn Cordes bei einem ersten Date Svenja zu sich zieht, so zieht er sie in den Goldrahmen hoch, der als Rahmen eines Spiegels im Hintergrund des gesichtslosen Hotelzimmers seine Silhouette in dieser Einstellung scheinbar zufällig kadriert. Bei der Vielzahl der gezeigten Aufsichten und Durchsichten wundert es nicht, dass Cordes stellvertretend für andere den Sinn für die menschlichen Verhältnisse verloren hat. Das Wort "Bankenkrise" wird mit keinem Wort erwähnt, und doch ist sie als Hintergrund stets präsent.
Wurde in "Milchwald" Architektur noch ausgestellt, so wirkt sie hier in der Zurücknahme stärker, obwohl sie die Handlung mehr bestimmt. Waren in den ersten beiden Filmen die Dialoge in ihrer Kargheit bisweilen erratisch, so haben sie hier eine Beiläufigkeit gewonnen, die dem routinierten Versteckspiel der Protagonisten zuarbeitet. Die Illusionierung wird aber methodisch immer wieder hintertrieben. In langen Gängen von der Kamera weg und auf sie zu, in denen man Off-Ton hört, in Momenten zum Dialog gegenläufigen Spiels, in denen Hunger-Bühler manchmal an seine Grenzen gerät. Gab es in der Vergangenheit problematische Experimente mit Kamerafahrten, die am Schauplatz vorbeifuhren, wird dieses Mittel inzwischen von Hochhäusler souverän zur elliptischen Bilderzählung eingesetzt. Die aufeinander treffenden Milieus werden in "Unter dir die Stadt" mit klaren Bild- und Spiellösungen voneinander abgegrenzt und aufeinander bezogen. Die Innenspannung der Geschichte ist vom ersten Moment an spürbar und hält zumindest bis zur vorletzten Abblende – mag man vom kurzen Epilog, der einen politischen Ausblick riskiert, halten, was man will. Die wunderbare Musik von Benedikt Schiefer ist zwar Teil der Handlung, aber sie wird, wie schon in "Falscher Bekenner", nicht dogmatisch auf ihren Live-Aspekt eingeschränkt, sondern als Mittel der Verfremdung in einer fremden Welt eingesetzt. Die Mischung aus realistischer Milieuschilderung, verfremdeter Atmosphäre und politischem Kalkül schließt eher an Filme wie Bertoluccis "Strategie der Spinne" an als an die einschlägigen Bänker-Filme, deren Nähe am ehesten in den Büroszenen zu spüren ist, als hätten die Protagonisten zu viele Filme gesehen, um sich anders verhalten zu können.
Was in Zukunft von Christoph Hochhäusler und der "Berliner Schule" zu erwarten ist, konnte man zum Teil auf der "Berlinale" sehen: Hochhäuslers überaus spannender Beitrag zu "Dreileben", "Eine Minute Dunkel", zeigt jedenfalls in ähnlicher Weise wie "Räuber" von Benjamin Heisenberg, dass diese Ästhetik weniger isoliert und aufgebraucht ist, als ihre Kritiker das beschreiben. Eine Flucht ins Genre, wie Rüdiger Suchsland teils zu wünschen, teils zu befürchten schien (vgl. fd xx/10), ist dieser Film gewiss nicht, weil die Reflexion der Form auch vor dessen Klischees nicht haltmacht. Der Revolver lag zwar schon mit Gründung der Filmzeitschrift vor zwölf Jahren auf dem Tisch, aber er kommt nach wie vor eher in der übertragenen Bedeutung des Wortes zum Einsatz. Das zeigt bereits die Grundanlage der Geschichte, in der es um einen unschuldig Inhaftierten geht, dem am Totenbett seiner Pflegemutter die Flucht gelingt und der bei zunehmendem Fahndungsdruck nach dem vermeintlichen „Monster“ tatsächlich Schuld auf sich lädt. Polizeiliche Ermittlung findet im Nebenplott statt, der Entflohene redet wenn, dann vorwiegend wirr mit sich selbst. Dem reinen Mitgefühl widersetzt sich ein solcher Sonderling. Man wünscht ihm trotzdem Schutz in den unbehausten Schutzräumen und Unorten, die Hochhäusler routiniert in das Verfolgungsszenario einsetzt: Höhlen, den Innenraum einer Autobahnbrücke, dichte Waldabschnitte, das verwohnte Haus der Pflegemutter.
Wie in „Unter dir die Stadt“ und schon in seiner offensichtlich Chris Marker reflektierenden Episode von Deutschland 09, die ohne Schauspieler gedreht das Nachleben der Toten in Dokument und Foto skuril in Szene setzt, wird auch hier mit der Unwägbarkeit der Bilder, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragen, operiert. Sieht man den zahlreichen Bildanspielungen und Verweisen an, dass Hochhäusler als filmhistorisch denkender Filmemacher dem Credo zuneigt, dass man als Zwerg auf den Schultern von Riesen steht, so zeigt dieser Ausflug in die Bildwelt des Vergangenen, dass die Hauptfigur als Kind auf den Schultern von Monstern hockt. Sind die Dokumente der Vergangenheit wenig verlässlich, so färbt das natürlich auf die immer schon vergangene Gegenwart im Film ab. Hochhäuslers Misstrauen in die Dokumentqualität der Filmbilder, an dem „so ist es“ jedes noch so künstlichen Arrangements, findet immer neue filmische Formen. Scheinbar Greifbares erweist sich als falsch oder montiert, Sichtbares ist vielleicht nur von den Figuren gedacht, Unsichtbares bestimmt das Geschehen. Film ist in dieser politisch gedachten Architektur eine trügerische Fassade, hinter der für den Zuschauer spannendes, schwer bestimmbares Terrain beginnt. Diese Konstante macht Hochhäuslers Filme sicher auch in Zukunft sehenswert.
Marcus Seibert
Der Autor ist redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift "Revolver".
Der Artikel erschien zuerst in Filmdienst 7/2011 www.film-dienst.de
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