Freitag, 3. Juni 2011
Spuren II
Einige der Bilder waren von den Klassenräumen aus zu sehen. Der expressiv-punkige Stil war unverwechselbar. Ein wenig altmodisch, wie ich unter Einfluss des Kunstleistungskurses fand, der mich aufmerksam für die Sprayerszene gemacht hatte. Aber die Bilder sprangen ins Auge, wenn man während des Unterrichts aus dem Fenster sah und an etwas anderes denken wollte. Wir kannten den Maler, er wohnte in der Nähe der Schule. Unverwechselbar der schnürende Gang des hageren großen Mannes mit dem Schnäuzer, den man immer alleine sah. Er war so etwas wie ein Held des Widerstandes, der dem öffentlichen Raum seine Meinungen entgegen setzte und dafür immer wieder Ärger mit den Behörden bekam. Aber das trug er nicht vor sich her, wirkte eher wie ein in Aachen gestrandeter weltläufiger Dandy. Später in Köln bin ich ihm wieder begegnet. Der Schnäuzer war weg, er trug manchmal eine Schiffermütze oder ein Toupet, trotzdem unverwechselbar. Warum, das habe ich erst vor zweieinhalb Jahren verstanden, als wir noch einmal umgezogen sind und ich Klaus Paier plötzlich im Hausflur sah. Er wohnte unter uns, war geschmeichelt, dass ich wusste, wer er war, obwohl er auf die Erwähnung der Wandmalerei reagierte, als gehöre das einem anderen, vergangenen Lebensabschnitt an. Es hieß, er arbeitet in einem Ökohof, den er mit aufgebaut hat. Nachts sah man ihn an seinem Schreibtisch sitzen und zeichnen. Aber dann fing er an, jedes Geräusch in unserer Wohnung zu hören. Er kam hoch zu uns, um sich über Bobby-Car-Fahrten mit Flüsterreifen zu beschweren, über titschende Tischtennisbälle. Wenn ich Klarinette übte, fand er das "unerträglich". Wir erfuhren, dass er schwer krank sei, schon seit Jahren, Aids. Das erklärte auch das Toupet, zumindest gab es dem geschmacklich fragwürdigen Versuch, fehlende Haare auszugleichen, einen Grund, ebenso dieser missgünstigen Art der akustischen Wahrnehmung. Im Herbst 2009 ist er gestorben, nachdem er wohl ein halbes Jahr die Wohnung kaum noch verlassen hat. Dem Haus hat er den Ritus einer gemeinsamen Feuerzangenbowle hinterlassen. Und neulich las ich in der Zeitung, dass seine Bilder in Aachen unter Denkmalschutz gestellt worden sind. Eine posthume Ehrung, die schon vielen Rebellen zuteil geworden ist. Er hätte sich vermutlich darüber gefreut, als wäre ein anderer geehrt worden, mit dem er mal verwandt war.
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