Mittwoch, 22. Juni 2011

Agogik

Der Begriff wird außerhalb der Musikerziehung wohl nur selten verwandt. Er bezeichnet die "Führung" des Vortrags jenseits des Notierten. Was die Noten vorgeben, ist nur die halbe Wahrheit. Wer schon mal den "seelenlosen" Vortrag eines Musikprogramms beklagt oder der automatischen Melodie eines Kleinkinderklaviers gelauscht hat, kennt den Unterschied. Die als gelungen empfundene Gestaltung einer Melodie setzt eben auch Abweichungen vom Metrum, eigene Verteilungen von Lautstärken und Geschwindigkeiten voraus, also aktiven Widerstand gegen das geschriebene Notat. Ohrenfällig ist die Variabilität der Darstellung beim Vergleich verschiedener Versionen eines notierten Stücks. Glenn Goulds zwei Goldbergvariationen sind eine Variation in der Variation. Selbstverständlich ist die Eigenheit der Interpretation in der improvisierten Musik aller Schattierungen, wobei jede noch so abgedrehte Cover-Version darauf besteht, dass das Melos der Ausgangsnotation, des gecoverten Stückes, wie weit auch immer rhythmisch oder harmonisch verfremdet und durch Unausgeschriebenes umsponnen hörbar bleibt. Besondere Bedeutung hat die Agogik als die Lehre von den die gute Gestaltung entscheidenden Minimalverschiebungen, die zu Reibungsphänomenen zwischen Melodie und Rhythmus oder Aufmerksamkeitsverlagerungen, zum Beispiel auf Nebenmelodien führen. In der Interpretation von Texten gibt es kein Metrum, gegen das die Prosodie angehen könnte. Die Reibungsphänomene sind anderer Natur. Die vermeintlich immergleichen Buchstaben, die starre Interpunktion, sie suggerieren einen homogenen, gleichförmig gedachten Text, den der Schreiber noch so lebhaft sich gedacht haben kann: Schwarz auf weiß sind alle Worte gleich. Die Transformation der erstarrten Form, ihre Verflüssigung erfolgt, wie bei der musikalischen Notation, durch Lektüre und deren Artikulation, die über Punkte hinwegliest, grammatikalisch richtige Kommata nicht als Haltezeichen interpretiert, Betonungen setzt, wo keine verzeichnet sind. Im Drehbuchtext gilt es als ungern gesehener Vorgriff auf die Zubereitung des Dialogs, der einzigen Textform im Drehbuch, die im Sinne der Agogik bearbeitet wird, wenn Betonungen durch Unterstriche oder Majuskeln vorgegeben werden. Ansonsten sind die Freiheiten von Schauspieler und Regisseur dem Text gegenüber eher die eines Jazzmusikers, der einen Standard interpretiert. Die Reibung entsteht teils durch Dehnungsphänomene, teils aber durch Abweichung vom Text selbst. Erkennbar bleibt die gecoverte Melodie.

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