Montag, 24. Juni 2013

Revolver Heft 28

Das neue Revolver-Heft ist da! Darin Interviews mit Lodge Kerrigan, Nadav Lapid, Roberto Perpignani, eine Glosse von Katrin Eissing und Manifeste von Lucrecia Martel, Matias Piñeiro, El Pampero Cine und James Benning.

Dienstag, 4. Juni 2013

Haneke über Haneke


Wie haben Sie das gemacht, Herr Haneke?


Angelehnt an den großen Klassiker Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? von François Truffaut haben die Filmkritiker Michel Cieutat und Philippe Rouyer den Regisseur Michael Haneke über einen längeren Zeitraum ausführlich interviewt und Gespräche zu jedem einzelnen seiner Filme geführt – angefangen von seinem ersten Fernsehspiel Und was kommt danach? (1974) bis hin zu Amour, für den Haneke im Mai 2012 die Goldene Palme gewann. Film für Film erteil der Regisseur Auskunft zu seiner Arbeitsweise und zentralen Werkintentionen seines Schaffens.

Das Buch ermöglicht dem Leser aus der Perspektive des Filmemachers selbst einen unmittelbaren Zugang zu seinem Gesamtwerk.


Haneke, Michael
Cieutat, Michel
Rouyer, Philippe
HANEKE über HANEKE
(Haneke par Haneke, Edition Stock 2012)
Aus dem Französischen von Marcus Seibert
416 Seiten, Abb. 124
Alexander Verlag, Berlin/Köln 2013
Fadenheftung, gebunden
ISBN 978-3-89581-297-2
38,00 €
http://www.alexander-verlag.com/programm/titel/303-HANEKE_ueber_HANEKE.html

Donnerstag, 2. Mai 2013

Werkstattgespräch mit François Ozon

François Ozon

Marcus Seibert: Wie machen Sie das, jedes Jahr einen Film zu drehen?

François Ozon: Ich liebe meine Arbeit, folge also vor allem meinem Vergnügen, wenn ich drehe. Es gibt eine Reihe Filmemacher, die leiden beim Drehen. Ich gehöre nicht dazu. Außerdem habe ich zum Glück nie Probleme gehabt, mich von Themen inspirieren zu lassen. Die findet man überall, muss man nur die Augen offen haben und sich umsehen. Das Problem besteht eher darin, einschätzen zu können, was sich umzusetzen lohnt. Aber wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich zwei oder drei Filme im Jahr drehen, wie Fassbinder. Nur leider muss ich ja zwischendurch, wie jetzt für „Dans la maison” („In ihrem Haus”), auch auf Werbetour gehen.

MS: Sie haben Fassbinder erwähnt und beziehen sich oft auf diesen deutschen Filmemacher. Wie kommt dieser Bezug zustande?

FO: Ich konnte mich als Student nie auf eine Art Kino festlegen und fühlte mich von sehr verschiedenen Filmen angezogen. Zwischen all den anderen Studenten, die genau wussten, was sie später machen wollten, habe ich mich mit meinen gegensätzlichen Vorlieben verloren gefühlt. Fassbinders Filme haben mich bestätigt und von dem Druck befreit, mich entscheiden zu müssen. Da war jemand, der völlig frei von Zwängen auftrat, vor nichts Angst hatte und Genres mischte, wie es ihm gefiel. In seinem Werk findet man Sozialdramen, Komödien, Melodramen und immer wieder extrem stilisierte, theatralische Filme. Mich hat diese Vielfalt begeistert, die unerschöpfliche Energie, die Arbeit in einer Art Schauspielerfamilie.

MS: Sie haben eines seiner Theaterstücke adaptiert, „Tropfen auf heiße Steine”.

FO: Ja. Er war siebzehn, als er das geschrieben hat. Mich hat die Reife des Stücks begeistert, diese Hellsichtigkeit, was Paare und Liebesbeziehungen anbelangt. Eigentlich wollte ich das Stück ja gar nicht verfilmen. Ich war gerade selbst dabei, einen Stoff über ein Paar zu schreiben, eine Liebesgeschichte. Aber dann habe ich „Tropfen auf heiße Steine” im Theater gesehen. Das war genau das, was ich schreiben wollte. Da habe ich dann lieber gleich das Stück adaptiert.

MS: Durch die Übersetzung haben Sie dem Fassbinder-Text zu einer Leichtigkeit verholfen, die seine Diktion auf Deutsch nicht hat.

FO: Auf Französisch klingt das immer noch ziemlich künstlich. Aber das war mir egal. Ich mochte dieses Stück. Ich mag es immer noch. Was übrigens diese Künstlichkeit von Übersetzungen anbelangt, so spürt man die auch in Filmen wie „Amour” von Michael Haneke zum Beispiel.

MS: Das Drehbuch wurde von einem französischen Drehbuchautor übersetzt.

FO: Klingt aber eben übersetzt, auch im Stil, wie sich die Figuren äußern.

MS: Sie haben seit dem Fassbinder-Film eine Menge Theaterstücke verfilmt. Theater ist ja für viele eher der Feind des Kinos.

FO: Für mich war das noch nie so. Ich liebe das Theatralische im Film. Viele Regisseure wollen das im Film möglichst zurückdrängen, aufgrund der Kinotradition, die sich vom Theater erst mal absetzen musste. Mir macht das keine Angst. Vielleicht ist das meine Brecht’sche Seite. Ich liebe
Verfremdungseffekte und finde es immer wichtig, dass der Zuschauer nicht vergisst, dass er einen Film sieht. Ich mag diese reflexiven Moment und einen gewissen Abstand in der Erzählweise.

MS: Es ist also für Sie bereits eine Verfremdung, aus einem Theaterstück einen Film zu machen.

FO: Nicht unbedingt. Das hängt von der Adaption ab. Ich habe schon Filme gedreht, wo ich die Theatervorlage eins zu eins umgesetzt habe, zum Beispiel bei „Tropfen auf heiße Steine” oder „Acht Frauen”. Diese Filme spielen mit der Idee des Theatralischen, die immer ein Element des Films gewesen ist. In meinem letzten Film, „In ihrem Haus” habe ich eher versucht, gegen den theatralischen Aspekt des Stückes zu arbeiten und eine filmische Umsetzung zu finden, der man das Theaterstück nicht mehr anmerkt.

MS: Aber am Ende des Films schließt sich wieder ein Vorhang...

FO: ...weil das Leben eine Bühne ist, auf der wir die Darsteller sind, wenn Sie so wollen. Wir alle tragen Masken. Das ist doch die Wirklichkeit.


Ein Bild aus DANS LA MAISON (F 2012).

MS: Wie sind sie auf das Stück von Mayorga gekommen. Haben Sie seinerzeit die Inszenierung im Théâtre de la Tempête gesehen?

FO: Ja. Ich werde ziemlich oft von Schauspielern gebeten, mir ihre Stücke im Theater anzusehen. Ich hab im Allgemeinen nicht viel Lust dazu, aber in diesem Fall hat eine Freundin von mir so lange nachgehakt und der Titel des Stücks „Der Junge aus der letzten Reihe” gefiel mir so gut, dass ich schließlich doch hingegangen bin. Und als ich das Stück gesehen habe, war mir sofort klar, das ist was für mich. Es geht um einen frustrierten Literaturlehrer, den ein Schüler dazu bringt, wieder Spaß am Erfinden von Geschichten zu bekommen. Das war noch, bevor ich „Das Schmuckstück” gedreht habe.

MS: Es gibt in ihren Filmen zahlreiche abgeschlossene Räume oder Häuser als Protagonisten, zahlreiche Kammerspiele.

FO: Mein Vater war Wissenschaftler. Er machte immer wieder kleine Experimente mit Mäusen und Fröschen. Ich bevorzuge es, die Figuren zusammen einzuschließen und zu sehen, was passiert.

MS: Im Theaterstück von Mayorga werden die Aufsätze des Schülers vorgelesen. Das haben Sie geändert.

FO: Sie haben das Stück gelesen? Im Original?

MS: In der französischen Fassung. Sie haben die im Stück rezitierten Texte großenteils in Off-Texte zu stummen Szenen verwandelt.

FO: Ja, ich musste das visualisieren, was im Theater über Dialog oder Monolog abgewickelt wird. Im Kino kann eine Seite Dialog durch einen Blick, eine Einstellung, eine Kamerabewegung dargestellt werden. Das ist ein Vorteil. Und es hat mich bei diesem Film besonders gereizt, zu allen Formelementen, die im Theater funktionieren, eine Kinoentsprechung zu finden. Die Amerikaner hätten aus der Vorlage ganz sicher einen Thriller gemacht, der komplett in dem Haus spielt, wo dann auch alle wichtigen Ereignisse stattfinden. Aber mich hat genau das Gegenteil interessiert: Es passiert nur Alltägliches, banale alltägliche Probleme werden gezeigt und das Interesse des Zuschauers gilt weniger dem, was als nächstes geschehen wird, als vielmehr der Frage, wie diese Alltäglichkeiten erzählt werden. Die Erzählweise interessiert mehr als das Erzählte.

Mittwoch, 20. Februar 2013

Dauer als Qualität

In ihrer abschließenden Besprechung der Berlinale und der Preisvergaben ("Ein kleines Wunder am Potsdamer Platz") hat Cristina Nord in der taz am Montag an entscheidender Stelle Jacques Rancière zitiert. „Der Realismus setzt Situationen, die andauern, gegen Geschichten, die verketten und immer schon zum nächsten übergehen.“ Sie untermauert damit ihre Kritik an Tanovics Film „Epizoda u zivotu beraca zeljeza.“ Dem „fehlt jedes Gespür dafür, dass es einer gewissen Dauer bedarf, um prekäre Lebensumstände filmisch zu erschließen.“

Ich habe den Film nicht gesehen und nach der Kritik von Cristina Nord weiß ich auch nicht, ob ich ihn mir noch ansehen werde. Trotzdem ist mir das Rancière-Zitat und die Argumentation gegen den Film hängen geblieben. Vielleicht, weil die Sätze so in Stein gemeißelt daherkommen: Der Realismus setzt... es bedarf einer Dauer... prekäre Lebensumstände erschließen. 

Das sind Formulierungen, die manifestartig eine ästhetische Position festschreiben, in der dem Begriff Realismus in Koppelung mit dem der Dauer ein zentraler Platz eingeräumt wird. Eine Art „Augenblick verweile doch, du bist so schrecklich“ scheint da eingefordert. Und bei Rancière wird das Plädoyer für diese Ästhetik des Hässlichen noch um eine Absage an den Plot, an die Idee der Erzählung verlängert. Von Film wird demnach die insistente Darstellung prekärer Lebensumstände erwartet, die der Ausbreitung von Situationen den Vorrang gibt.

Ein klares Statement für das Dokumentarische gegen das so genannte Fiktionale im Film, ein Statement, das als ästhetische Position weder besonders neu noch eine Einzelmeinung ist, weil es seit mehr als fünfzig Jahren zur Standardausstattung des engagierten Filmbetrachters gehört. Auch das Manifest-Heft von Revolver wimmelte von Bekenntnissen zu einem persönlichen, eigenen, echt gefühlten oder authentischen Film, zu einem methodischen Realismus, der sich seit den Publikationen der Nouvelle Vague mit Bezug auf den italienischen Neorealismus, in den Ansätzen der filmkritik oder PR-Kampagnen wie dem Dogmafilm regelmäßig erneuert.

Dagegen ist auch wenig einzuwenden. Wer stellt sich schon hin und erklärt, die eigenen Filme wollten nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben? Abgesehen davon, dass die Pose einer solchen Aussage den Inhalt sofort konterkarieren würde: Die Forderung, der Film soll mit der Wirklichkeit zu tun haben, ist trivial. Bazins wichtige Grunderkenntnis war, dass es zu den onthologischen Bedingungen des Films gehört, ein Abbild von etwas zu sein, das man gewöhnlich als Realität bezeichnet. Das gilt sogar noch für den Animationsfilm und die dort hergestellten Welten, die stets verzerrte Kopien der einzig wirklichen sind. So sehr Bazins Feststellung einen nicht abschüttelbaren Bezug des Films auf das abgebildete Andere des Lebens herstellt, so sehr setzt er damit auch die Nichtidentität. Als Kunstform, die freizügig mit diesen Abbildern operiert, bleibt Film stets realitätsfremd oder anders gesagt, enthält Realität nur verfremdet. Einem Film fehlenden Realismus vorzuwerfen, ist demnach in erster Linie ein politisches Argument.

Kriterium für Realismus ist nach Rancière/Nord die Dauer von Situationen. Eins der filmischen Mittel der Wahl ist seit jeher die Plansequenz, die lange, ununterschnittene Einstellung. Doch ist deshalb der Schlagabtausch von Julie Delpy und Ethan Hawk in Before Midnight realistischer als andere Gesprächssituationen? Ist Russian Ark demnach ein guter Film? Plansequenzen wie am Anfang von Touch Of Evil oder Hanekes Code – inconnu sind die artifiziellsten Filmerzeugnisse, die man sich denken kann und eher Beispiele für die strenge Durchstrukturierung einer Realitätsfiktion. Setzt man gegen diese Szenen, „die verketten und immer schon zum Nächsten übergehen“ Szenen, in denen man einer Figur zusieht, wie sie sich beide Schuhe zuschnürt, sich einen Mantel anzieht und dann erst die Wohnung verlässt, wie sie sich vom Wasseraufsetzen bis zum Nachfüllen des Filters Kaffee kocht, so ist der Gewinn sicher die Geste, mit der der Zuschauer gewissermaßen an den Tisch gebeten wird. Er soll in eine Situation verwickelt werden, die ihm bekannt ist, um mit Fremdem zu sympathisieren. Im schlechtesten Fall geht diese Operation der Dauer auf Kosten der Innenspannung einer Szene, anders formuliert: Ich sehe solche Szenen, spüre den Zweck – und oft genug nur den – und bin verstimmt. Nur selten gelangen solche Einstellungen wie die Schlussbilder von Johan van Keukens "De grote Vakantie" – gedreht als eigener Abgesang aufgrund der Krebserkrankung –, in denen man Schiffe auf dem Rhein im Gegenlicht glitzern sieht, zu einer das Abbild übersteigenden Bedeutung, dann aber auch, weil der durch den Film ausgebreitete Hintergrund stark genug ist, die Darstellung das Dargestellte transzendieren zu lassen.

Plansequenz ist gleichbedeutend mit Verzicht auf Montage. Gerade im Schnitt liegen aber Möglichkeiten, Situationen zu verlängern und durch Insistenz zu verstärken. Doch wo ist hier die Abgrenzung zu Verkettung und Übergang? Der Fluss, den der Schnitt künstlich herstellt, etabliert per se eine scheinbar logische Abfolge, gleichgültig, ob konfrontativ Achsensprünge, Orts- und Zeitwechsel oder vekettend Bildübergänge geschnitten werden. Sicher, wenn auf den Blick nach oben die Subjektive in die Baumkronen folgt, wenn mit Betreten des Hauses die Kamera von der Rückansicht von außen in die Frontalsicht der Hauptfigur von innen springt oder Gespräche als gestaffelte Zweier mit Frontalansicht beider Gesprächsteilnehmer aufgenommen werden und der Sprung in Schuss/Gegenschuss erfolgt, sobald sich die vordere Person umdreht, dann folgt das Schnitt-Konventionen, die für jeden Schnitt einen Auslöser brauchen, den Film als logische Kette von Einstellungen gliedern, in der Übergänge gefühlt unsichtbar sein sollen, obwohl die Mittel greifbar künstlich sind. Doch selbst, wer diese Konventionen unterläuft, wird nichts dagegen ausrichten können, dass die Abfolge der Einstellungen in einem Film als logisches Kontinuum wahrgenommen wird, selbst wenn der Bruch zum Stilprinzip erhoben wird. Und noch die stilisierteste, artifiziellste Auflösung einer Szene kann dem Bedürfnis folgen, sie besonders intensiv und damit in überhöhter Form realistisch darzustellen, gewissermaßen nach dem „Durchgang durch das Unendliche“ wie Kleist das in seinem Aufsatz über das Marionettentheater nennt.

Die Insistenz auf Situationen, die Dauer allein schafft keinen guten Film, genau so wenig wie das Vertrauen auf einen ausgefeilten Plot mit schnellen Wendungen. Die Situationen müssen stark und bedeutsam genug sein, um die Dauer tragen zu können und sie müssen überzeugend gestaltet sein, auch in ihrem Zusammenspiel. Auf der Berlinale gab es zahlreiche Beispiele, in denen das nicht gelang, zum Teil auch, weil die Filmemacher sich zu sehr auf die schiere Abbildung, die Wirkung des Bildes verlassen haben, zu wenig über die hinter diesen Bildern erzählte Geschichte nachgedacht haben. Und damit meine ich nicht das, was sich in zwei Sätzen pitchen lässt. So berechtigt die Unzufriedenheit mit am Reißbrett geplotteten Filmen ist, bleibt Film eine erzählerische Kunstform, die viele Mittel der Realitätsfiktion zur Verfügung hat, um den Zuschauer für das zu interessieren, was sie uns in der der Kunst eigenen Mischung aus Abbild und Konstruktion als Kette von Situationen ausbreitet. "Es gibt kein Richtiges im Falschen" so könnte man Adorno gegen Rancière aufstellen. Die im Feuilleton ausgebreiteten Dichotomien zeugen von filmpolitischen Lagerkämpfen, die mit der Tauglichkeit von Filmen nur wenig zu tun haben, denen die Kritik ein Korrektiv sein will. Ich bin jedenfalls für einen Realismus der starken Situationen, der das "gut Erzählte" nicht aus dem Blick verliert, für Filme, die sich der Dauer genau so bedienen wie der Elipse, des Bruchs, der Stilisierung und der Verkettung, um ihr Ziel zu erreichen. Wenn man das Gespür dafür nicht verliert, was man macht, wenn man es so macht, ist beim Filmemachen jedes Mittel recht.

Freitag, 15. Februar 2013

Vic et Flo ont vu un ours


Ein Interview mit Denis Côté war neulich in Revolver. Bislang hatte ich noch keinen seiner Filme gesehen. Schon deshalb hat mich „Vic et Flo ont vu un ours“ interessiert. Aus Kanada kamen zuletzt immer wieder ungewöhnliche frankophone Filme. Die Synopsis klang zwar nur mäßig interessant, aber der Titel ist witzig – allerdings nur auf Französisch. „Avoir vu le loup“, also den Wolf gesehen haben, heißt, man hatte zum ersten Mal Sex, hat seine Unschuld verloren. Und „être un peu ours“ – ein Satz der auch im Film fällt – heißt eigenbrötlerisch sein, „avoir ses ours“, seine Tage haben.


Und der Film macht da weiter, wenn er mit Klischees des Gangsterfilms spielt und sie mit kanadischer Hinterwälderalltagsschrägheit und einer lesbischen Liebesgeschichte kombiniert. Sicher kann man das Ende schlecht hergeleitet und übertrieben finden. Es dauert auch schlicht ein, zwei Einstellungen zu lang. Aber bis dahin wird ziemlich eindrücklich gezeigt, welche Schwierigkeiten eine fast sechzigjährige Ex-Sträflingin hat, ins Leben jenseits der Mauern zurückzufinden. Andererseits stolpert sie über skurrile Widerstände und Zwischenfälle, die den sozialrealistischen Gestus des Plots konterkarieren und eben in das überhöhte Finale münden, in dem Vic und Flo in für sie aufgestellten Bärenfallen verenden.


Dass hier mit Vic eine Frau mit dem Urteil lebenslänglich vorzeitig entlassen wird, ist bereits ein Signal. Es muss Mord gewesen sein, die Protagonistin lässt sich aber im Folgenden höchstens Ruppigkeiten gegen ihren paralysierten Onkel, die gemeinen Nachbarn oder den distanzlosen Sozialhelfer zu Schulden kommen. Ihre Freundin ist bi, der Sozialhelfer schwul – Vic erinnert ihn an seine Mutter – und da alle wichtigen Aktiva weiblich sind, ist auch die Böse eine Frau, mit der Flo eine Rechnung offen hat – welche, bleibt offen. Klar ist aber, wer einmal aus dem Blechnapf aß, die ist auch in Kanada und einem weitreichenden Sozialsystem nicht davor sicher, von dem eingeholt zu werden, vor dem sie in den Wald geflohen ist. Der Wald verspricht Menschenleere, Bären, Einsamkeit. Aber selbst in Kanada entkommt man der Gesellschaft nicht, weder der bürgerlichen fieser Nachbarn noch der kriminellen, die erst am Ende zeigt, dass sie sogar noch fieser sein kann.


Vieles wirkt in diesem Film eher gut gefunden als erfunden: die Gruppe Rennradfahrer, die aus dem Wald auftaucht und wieder verschwindet, das Elektroauto eines Golfplatzes, mit dem Vic und Flo durch die Gegend fahren, der Nachbarjunge mit seinem ferngesteuerten Helikopter, die Waldszenen, das Eisenbahnmuseum voller rostiger Lokomotiven, die trostlose Bar. Spätestens die Cartrennbahn weist darauf hin, dass hier mit System Orte und technische Embleme für gegenläufige (männliche) Lebensentwürfe versammelt sind, die in ihrer Disparatheit darauf hinweisen, wie disparat gesellschaftliche Zusammenhänge sind, wenn die Abgrenzung über technische Attribute erfolgt, die in dem Film wie Hundeduftmarken und immer als Aggressionen und Teil männlichen Revierverhaltens in Erscheinung treten. Altmodisch normal und friedlich scheint in diesem Panoptikum menschlicher Abgrenzungen, eigentlich nur die Ex-Gefangene leben zu wollen.

Sicher ist das nicht der vollendete Film des Jahres, aber ein Hinweis, wie man mit einfachen Mitteln jenseits der Dardennes und Ken Loach ein Sozialdrama entfalten kann, das noch die Zweifel am eigenen Genre reflektiert.


Revolver Heft 27



Ich habe dieses Mal völlig vergessen, das neue Heft von Revolver anzukündigen. Hiermit nachgeholt:

"Wo steht der Feind? Wenn das so einfach wäre. Auf zwei Gefahren können wir uns (mit Jean Améry) einigen: „Ordnung und Unordnung”. Über das Dazwischen müssen wir reden. Dieses Heft hat kein ausdrückliches Thema, und doch gibt es interessante Überschneidungen zwischen Marie Vermillard, Andrew Bujalski und Jan Schomburg zum Beispiel; Filmemacher, die – leicht im Ton, offen in der Form – an einem undogmatischen Kino arbeiten. Die alten Meister der Freiheit, Hartmut Bitomsky und Chris Marker, flankieren das Heft mit überraschenden Einsichten. Und auch Nicolai Albrecht passt in diese Reihe; in seinem Text geht es um Trance und Improvisation. In diesem Sinne: weiterlesen ... "

Inhalt: 
Revolver live! Marie Vermillard im Gespräch mit Ulrich Köhler
Mathilde Lesueur: Das Picknick in „Lila Lili”
Hartmut Bitomsky: Ästhetischer Widerstand
Revolver live! Andrew Bujalski im Gespräch mit Nicolas Wackerbarth
Nicolai Albrecht: Direkter Filme machen
Hartmut Bitomsky: Ein wahres Kino
Interview von Istvan Gyöngyösi: Jan Schomburg
Chris Marker: 2084


Dienstag, 12. Februar 2013

Holzwege

Die Vorliebe deutscher Filme für rätselhafte Rückenansichten, vor allem von Frauen, ist bekannt. Die auf der Berlinale neu vorgestellten Filme sind aus anderen Gründen unbefriedigend. Nina Hoss reitet in Gold schweigend und mit hölzernem Gesicht durch eine sehr hölzerne Landschaft, begleitet weitgehend von Chargen, die jeder wegen der allgemeinen Schweigsamkeit mit einem Selbstdarstellungsmonolog abgefrühstückt werden, kurz bevor sie auf die durchschaubarste und hölzernste „Einer-kam-durch“-Dramaturgie ins Jenseits befördert werden. Sehr viel Holz. Innenwelten werden in 1zu1-Aufsagern auf dem Tablett serviert, der Rest spielt sich weitgehend jenseits der Wahrnehmung des Zuschauers ab, der Nina Hoss immer wieder von links nach rechts oder rechts nach links durchs Bild reiten sieht.

In Halbschatten ist zwar die Gefühlslage klar und auch klar gespielt. Aber ein Film über die Langeweile und das Warten, der Handlung minimalisiert, hat ein anderes Problem: Die ausgeklügelten Blicke auf leere Räume bilden nur in der engen Koppelung an eine dramatisch aufgeladene Figur Seelenlandschaften ab. Und selbst wenn das gelingt, sind feste Raumbilder ähnlich wie Darstellungen des Langweilens ermüdend. Man freut sich jedes Mal auf die lebhaften Spielmomente, zu denen Anne Ratte-Polle eben, wie man dann sieht, sehr fähig ist. Eigentlich schade nach Unten, Mitte, Kinn.

Auch bei Pia Marais scheint der Neuling weniger gelungen als der Vorgänger, der von den schrägen Milieus lebte, durch die Jeanne Balibar gespült wurde. Layla Fourie stellt zwar schnell eine moralische Spannung her, ein – auch wieder im Dialog recht explizit ausgebreitetes – Spiel um Lüge, Wahrheit und Ehrlichkeit, aber für die Darstellung des inneren Zwiespalts der Hauptfigur, für den Widerstreit von Sorge ums Kind und schlechtem Gewissen fällt der Regisseurin vor allem die unverändert sorgenschwere Profilansicht von Rayna Campbell ein, das unbewegte Gesicht einer schweigenden Frau, die mit dem Auto durch die Nacht fährt.

In Konsequenz muss in diesem Film mal wieder ein Autounfall herhalten, um die Handlung in Gang zu bringen, eine ärgerliche Konstante deutscher Kinogeschichten der letzten zehn Jahre. Und als wäre das noch nicht genug, fügt der Zufall auch die restlichen Verknüpfungen der Figuren wie von Zauberhand zusammen: Ausgerechnet den Sohn des Unfallopfers muss ausgerechnet die Hauptfigur für eine Job-Bewerbung testen. Ausgerechnet der Sohn nimmt sie und ihr Kind mit zu sich nach Hause und zu seiner Mutter, die ausgerechnet in der Nacht, in der ihr Mann nach Kasinobesuch umkam, auch dort spielte. Zufälle wie die Zahlenreihen am Roulettetisch sind das nicht, eher potenzierte Unwahrscheinlichkeiten einer Abfolge von mehreren Nullen.

Diese hölzerne Anbahnung, die sich kein Fernsehkrimi leisten kann, ohne höhnisch niedergemacht zu werden, kommt natürlich als Drehbucheinfall erst in den Blick, wenn man den Figuren Gesten und Eigeninitiative in Richtung fremder Personen möglichst abschnürt, wenn man sie in sich selbst gefangen setzt und eine eher geleeartige innere Verfassung vorschreibt, die das Auto zum Marmeladenglas werden lässt. Das System der Hemmungen von emotionalen und aktiven Impulsen wird bei Pia Marais angesichts des Lügenthemas zwar thematisiert. Es lähmt die Figuren dieser Filme aber allesamt und verdonnert sie auf eine unverständliche Weigerung, sich verständlich zu machen.

Gut. Diese Art Filme hat noch nie auf vielschichtigen Dialog als realen Teil der menschlichen Welt gesetzt und ganz sicher nicht auf Witz. Bei Pia Marais wird Lüge entsprechend auch nicht wirklich als schillernde menschliche Grundkonstante vorgestellt, sondern in eine protestantische Betrachtung über Wahrheit und Lüge im moralischen Sinne eingebettet. Dass man trotz der zahlreichen nächtlichen Fahrten die Bedrohung spürt, die Layla Fourrie treibt, liegt sicher nur zum Teil an diesen moralischen Seiten der Erzählung. Eher an der ängstlich besorgten Beziehung der Mutter zum Kind, dessen Gesicht die Probleme bebildert. Die Schwächen der Konstruktion überschatten die Inszenierung jeder anderen sozialen Interaktion, insbesondere der Liebesszene, die erst funktioniert, wenn man die beiden, die sich da laut Drehbuch aneinander abarbeiten sollen, nicht mehr sieht.

Sowohl bei Thomas Arslan als auch bei Pia Marais ist ein Hang zur Vollständigkeit der filmischen Erzählung (ein langer Weg muss eben lang gezeigt werden), zur Vermeidung von Ellipsen und zur Verwendung langer, nicht unterschnittener Einstellungen, die eine Handlung vollständig auserzählen, stilbildend. Die dramaturgische Notwendigkeit all dieser Mittel ist nicht wirklich einzusehen, außer als Verstoß gegen die Zwänge von Witz, Pointe und Spannung. Das war mal als Kontrapunkt zum Unterhaltungskino gedacht. Der Schmerz und die Empörung angesichts solcher entsättigter Dramaturgie hat jedoch seine Spannkraft in den letzten Jahren durch Wiederholung ziemlich eingebüßt. Das Unbehagen gegenüber Konventionen, die diese Art Filmemachen selbst hervorgebracht hat und die heute gerne mit Berliner Schule verbunden werden, ist dem Versuch anzusehen, Genres anzuzapfen, in diesen beiden Fällen Western- und Spionage-Thriller. Doch hier zeigen die Filme, weil sie von den Konventionen trotzdem nicht wirklich lassen können, ihre größten Schwächen. Die Westernelemente sorgen bei Arslan für den ein oder anderen unfreiwilligen Witz. Goldbemalte Steine müssen gleich am Anfang als Nuggets herhalten, die von auf stumm gestellten Goldsuchern erstaunlich leicht gefunden werden. Und insbesondere der Shootout ist weder spannend, noch drastisch oder besonders realistisch, sondern in einer Häufung von Totalen, in denen die Duellanten sich allzu gerne abknallen lassen, einfach schlecht inszeniert.

Bei Pia Marais wird dagegen das Agentenrequisit Lügendetektor, der das Spiel um Lüge und Wahrheit rund um das Kasinogeschehen orchestriert, nur mäßig glaubwürdig eingeführt. Ein Vehikel, das am Ende seine Schuldigkeit getan hat und entsorgt wird. Hinter den Genre-Anleihen wird sichtbar, welches Muster diese Filme in erster Linie prägt: das Road-Movie in einer besonders entschleunigten Variante.

Im Mittelpunkt steht die Transition, die Bewegung von A nach B, die in dieser zurückgenommenen Form Filme auf die Dramaturgie von S-Bahn-Fahrten verdonnert und vor allem den banalen Satz illustriert, dass der Mensch ein Reisender ist. Bei Pia Marais liegen die Beweggründe der Hauptfigur für diese Reisen und die jeweiligen Ziele zwar in der Zweckmäßigkeit des Geldverdienens offen und bei Thomas Arslan geht es um das Erreichen des Ziels Klondike. Trotzdem sind Wege als Wege nur mäßig interessant, wenn das, was unterwegs mit den Figuren geschieht, wie Haltestellen auf den Faden einer an sich gleichförmigen Fahrt gefädelt ist. Ein Weg für den deutschen Film ist das nicht.