Dienstag, 18. Februar 2014

Kreuzweg



Ein Jahr nach seiner Schmähschrift „Fahr zur Hölle Berliner Schule“ hat Dietrich Brüggemann einen Film abgeliefert, der dem angefeindeten „Berliner-Schule-Berlinale-Wettbewerbskino“ näher kommt, als ihm damals lieb war. Dass Brüggemann hier nur den Beweis erbringen wollte, welche formalen Kriterien man erfüllen muss, um in den Wettbwerb zu kommen, greift sicher zu kurz: Der Impuls der Schmähschrift war nicht die Ablehnung eines „künstlerisch hochwertigen“ Arthouse- und Wettbewerbskinos zugunsten unterhaltsamer Komödien, sondern die Ablehnung eines „hölzernen“, emotional absichtlich "kalten" Kinos, das er auf folgende Formel brachte: „Gekünstelte Dialoge. Reglose Gesichter, Ausführliche Rückenansichten von Leuten. Zäh zerdehnte Zeit.“ Das Plädoyer gegen eine vermeintlich kalte Ästhetik, also für eine Emotionalisierung des Kinos, war damals durchaus problematisch, weil es die Zielrichtung der angefeindeten Ästhetik missversteht. Reglose Gesichter, Rückenansichten und zerdehnte Zeit gibt es in „Kreuzweg“ dafür reichlich. Und doch ist dies kein Film der Berliner Schule geworden. Und das hat seinen Grund nicht nur darin, dass die Schule inzwischen aus ist.

Brüggemann knüpft scheinbar mit dem Bauprinzip an „Neun Szenen“ an. In vierzehn durchlaufenden Einstellungen zeigt er das anorektische Martyrium der vierzehnjährigen Maria im Umfeld ihrer Firmung. Nur bei drei der Einstellungen bewegt sich die Kamera, eine Fahrt, ein Schwenk, eine Hochfahrt mit Kran, bei einer vierten ist die Kamera fest auf dem fahrenden Auto montiert, in dem sich Maria und ihre Mutter unterhalten. Das Motiv des Kreuzwegs diktiert die mit den Kreuzwegstationen assoziierten vierzehn Szenen und erlaubt eine Reihe von kunstgeschichtlichen und filmischen Zitaten, wie sie schon im Filmplakat offensichtlich sind. Die feste Kadrierung bestimmt das Spiel, das vielfach auf Bewegung verzichtet. Teils werden die Sets durch die feste Einstellung zu Tableaus, teils zur Guckkastenbühne. Die Möglichkeit, mit dem Off der einmal gewählten Einstellung zu spielen, wird nur in wenigen Szenen genutzt. Die Bewegungsaskese betrifft vor allem das religiöse und familiäre Umfeld Marias. Bei der Sportstunde bewegen sich Kinder vor der Kamera, aber man hat bei dieser inszenatorisch problematischen Szene den Eindruck, die Kamera würde am liebsten folgen und nicht die Gefangenen beim Rundgang auf dem Gefängnishof beobachten. Bewegung ist im Film weltlich, nicht nur bei den Kindern des Sportunterrichtes, wo nach „teuflischer Musik“ getanzt werden soll. Der Arzt, der bei Maria Unterernährung diagnostiziert, bewegt sich als einziger frei im Raum – eine geglückte Choreografie, bei der die Mutter statisch im Mittelpunkt des Bildes stehen bleibt. Die Ärzte im Krankenhaus bewegen sich, um Maria zu retten und schieben Familie und Priester als statische Statisten an den Bildrand.

Die christlichen Fundamentalisten bewegen sich nur gemessen oder wenn es nicht anders geht: Auf dem Weg zur Kommunion, beim Sonntagsspaziergang, im Auto auf dem Rückweg von der Schule. Gesten sind sparsam, zurückhaltend, der Film scheint zu sagen „unterdrückt“. Ähnlich aber ist die Sparsamkeit der Kamerabewegung wohl als Opfer zu verstehen, das das fundamentalistische Thema fordert: Nur in dem man auf das verzichtet, was einem am Herzen liegt, zeigt sich die wahre Gottesliebe als Opferbereitschaft. Und da der Bann über die teuflischen Rhythmen von Soul und Gospel ausführlich thematisiert wird, scheint es nicht fernzuliegen, dass ein ähnlicher Bann über den Film verhängt ist, der immer schon im Verdacht stand, zu fleischlicher Sünde anzuhalten und somit ebenfalls Teufelswerk zu sein. Kein Fernseher weit und breit, es geht um musica coelestis und biblische Literatur, Film ist dem beschriebenen Milieu fremd. Und da der Blick der Kamera trotzdem mit dem Milieu sympathisiert, verzichtet er auf die Täuschungen des Schnitts und die Machinationen einer die Emotionen schürenden Kameraaktivität.

Das gelingt nicht immer. Gerade die Beschränkung auf den Guckkasten schnürt die Inszenierung erkennbar ein und es gibt nicht wenige Szenen, wie das Abendessen, bei dem Maria von ihrer Mutter für ein Geständnis gedemütigt wird, bei dem man kaum erkennt, was da in der Totale am Tisch passiert. Nicht alle Kadrierungen sind perfekt, nicht alle Choreografien davor. Selbst wenn man sich damit rechtfertigt, dass der Film auf die Ausstellung der Emotionen generell verzichtet: Auch in der Autofahrt habe ich gemeint, in der Dauer der Fahrt irgendwann den Trailer zu sehr zu spüren, was der Illusion des Nichtgemachten zuwider läuft. Nur selten, in der zweiten Einstellung, wird die Nähe zur Kamera durch die Choreographie der Figuren auch im Off so kunstvoll gestaltet, dass die Aufmerksamkeit immer auf den Figuren bleibt, deren wechselnde Konstellation hier erstmals ausgebreitet wird. Aber auch hier rutscht die Aufstellung für das Foto leicht aus der Kadrierung. Am überzeugendsten sind die Einstellungen mit klaren, schlichten und asketischen Bildausschnitten: Der Firmunterricht, die Beichte, das letzte Gespräch mit Bernadette. Und sie sind das weniger wegen der Virtuosität des Ausschnitts (der überzeugt am ehesten bei der Firmung und der sie begleitenden Kamerafahrt). Bei der erklärten Enthaltsamkeit des ganzen Films erscheint die Kamerabewegung der letzten Einstellung jedenfalls wie ein Verrat am ganzen Prinzip: Die Kamera steigt mit dem klassischen Kranschlussbild vom Grab der Heldin auf und blickt zuletzt aus fünf Metern Höhe in den grauen Himmel, in den die Seele aufgefahren ist. So schön die Emotionen konterkarierenden Elemente am Anfang dieser Einstellung sind, der Bagger, der das Grab zuschaufelt (man sieht die Beerdigung selbst nicht), die Nüchternheit des Grabs, so konventionell ist hier die Lösung eines Schlussbildes, das man nicht gebraucht hätte.

Bis auf diese Schlusswendung ist fast alles an diesem Film der Idee unterworfen, eine Leidensgeschichte aus der Sicht einer anachronistischen Position zu erzählen. Aber anders als bei Der einzige Zeuge oder ähnlichen filmischen Ausflügen in Reservate ideologischer Jetlags wird aus der Gegenüberstellung kein dramaturgisches Kapital geschlagen. Es geht nicht um den culture clash zwischen Religiösen und Nichtreligiösen, eine Art folkloristischer Verirrung eines weltlichen Helden vor religiöser Tapete. Da liegt tatsächlich der Vergleich zu Requiem näher, der auch einen Ausflug in religiösen Fanatismus made in Germany riskiert. Und wie bei Requiem bleibt die Frage nicht so einfach zu beantworten, warum man einen solchen Film macht, wenn der Anachronismus des Themas einen sogar dazu zwingt, den Film in eine andere Zeit zu verlegen. Das unternimmt Brüggemann nicht und das ist gut so. Er bleibt bei einer religiösen Fanatikerin, deren Regungen und Ãœberlegungen man aber versteht, weil sie immer noch durchsetzt sind mit bekannten Regungen und Ãœberlegungen von Teenagern, die man aus anderen Filmen oder dem eigenen Leben kennt. Ein Freund meinte, man müsse schon ehemaliger Messdiener sein, um diesen Film zu mögen und zu verstehen und ich muss zugeben, dass ich ab der ersten Einstellung vielleicht aus diesem Grund für den Film eingenommen war, der Diskussionen in mir anklingen ließ, die mir als ehemaligem Messdiener aus dem Deutschunterricht mit einem Lehrer des Opus dei vertraut klangen: Die Liebe zu Gott als Substitutionsangebot pubertären Gefühlsüberschwangs. Die Ideologie des Opfers und des Verzichts. Seit dem Niedergang der Religion hat diese gegenstandslos gewordene „mittelständische Verzichtserwartung“ (ein Begriff der Soziologie) in den basisökologischen Milieus neue Anhänger gefunden, als könne das private Opfer erlösen – die Welt, die Umwelt, einen selbst.

Die theologischen Debatten des Drehbuchs sind in ihrer Unbeirrtheit keineswegs naiv und anachronistisch. Sie werden kenntnisreich geführt und die Lacher sind dem Buch nicht dadurch sicher, dass die gesamte Theologie lächerlich gemacht wird, sondern dass die mit Ernst und Nachdruck vertretenen Tiraden gegen die „teuflischen Rhythmen“ sogar auf religiöse Lieder angewendet werden, die im Kirchenjargon als „Sakropop“ bezeichnet werden. Aus dem Buch spricht nicht nur einer, der selbst in einer Rockband spielt und Filme macht, sondern jemand, der das Milieu, das er darstellt, offenbar gut und von innen kennt, gewissermaßen ein „ehemaliger Messdiener“ eben. Genau genommen sprechen zwei: Dietrich und Anna Brüggemann, die das Drehbuch gemeinsam verfasst haben, das in seinen langen Dialogen selten ermüdet, die weder künstlich noch forciert alltagssprachlich daherkommen. Sie entstammen einer Welt, in der das Wort am Anfang stand und stets auf die Waagschale zu legen ist. Und gerade die Pausen, in denen Maria ihre Worte am Beichtstuhl vor ihrem unsichtbaren, geduldigen und eloquenten Gesprächspartner zu finden versucht, legen Zeugnis ab von der Gewalt, mit der das gezeigte religiöse Umfeld die Privatsphäre seiner Mitglieder durchdringt. Beichten war immer schon eine Zumutung wie überhaupt große Teile der religiösen Erziehung.

Warum macht man solche Filme heute? Vielleicht, weil man den Messdiener in sich nicht vergessen hat, weil eine Sozialisation unter den Leitlinien von Verzicht und Opfer sich nicht so leicht vergessen lässt. Der Film ist jedenfalls trotz des vorgeführten Wunders, das sich tatsächlich beim Tod Marias ereignet – und das man, wenn man will, natürlich auch psychologisch erklären kann – kein Film, der Messdiener dazu bringt, Messdiener zu bleiben. Er ist aber auch keine offene Abrechnung mit einem repressiven System, für das im Film die manchmal etwas holzschnittartig grausame Mutter steht und nicht der Priester, der den Ausweg der Erlösung anbietet. Zwischen diesen starken Figuren und der Freundin, dem Aupair-Mädchen Bernadette verschwindet der Vater fast, der nur in seiner letzten Szene so etwas wie eine Haltung zeigt. Die melodramatische Komponente solcher um die weiblichen Konflikte zentrierten Plots speist sich aus Filmen wie der Golden Heart-Trilogie Lars von Triers oder weiter zurückliegend den Melodramen Sierks und verbindet sie mit einer Komik des religiösen Milieus, wie seinerzeit in Annette K. Olesens In deinen Händen. In dieser Gemengelage sind klassische melodramatische Momente wie die Wiederbelebung per Elektroschock (Breaking the Waves) auf der Intensivstation möglich verbunden mit einem abfälligen Kommentar über die letzte Kommunion als "feste Nahrung", die der Patientin schadet, weil die Affektsteuerung nicht auf Schock oder Sensationslust geht: Der Tod am Schluss ist bei einem Kreuzweg schon durch den Titel vorgegeben. Auch bei Jean d’Arc, auf die im Film mehrfach rekurriert wird, rechnet niemand mit einer Rettung vor dem Scheiterhaufen. Die Kamera schwenkt deshalb vom Krankenbett weg auf die erstarrte Familie und den Priester und verlegt die vergeblichen medizinischen Bemühungen ins Off. Die Pointe der Szene liegt in den diffusen Reaktionen der überlebenden dramatis personae, denen keine Filmgeschichte zu Hilfe zu eilen scheint, wie man die Emotion einer solchen Situation veräußerlicht, denen sich keine Geste, kein Ritus anbietet nach der letzten Kommunion.

Wenn der Impuls der Schmähschrift des letzten Jahres hier seinen Niederschlag findet, in der Gleichsetzung des angeprangerten "kühlen" Spiels mit der emotionalen Hilflosigkeit christlicher Fundamentalisten, die Gefühlsäußerungen als weltliche Schwäche auslegen, in der Gleichsetzung langer Einstellungen mit religiösen Verbot starker Gefühle und Bewegungen, dann geht der Schuss daneben. Die unter verschiedenen Labeln zusammengefassten Regisseure, die Brüggemann angegriffen hat, sind keine verkappten Pietisten, sondern misstrauen – wie scheinbar Brüggemann zumindest in diesem Film auch – der konventionell expressiven Darstellung starker Gefühle, weil sie wahlweise in Kitsch oder Floskeln mündet, die den Blick auf die inneren Zustände eher verstellen, deren unverbrauchte Darstellung angestrebt wird. Was immer der Beweggrund war: die Figuren des Films sind gerade in diesen Momenten, in denen Reaktionsmuster fehlen, überzeugend. Es bleibt abzuwarten, wie das Geschwisterpaar mit dem Erfolg ihres Experiments umgehen wird.

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