Mittwoch, 21. März 2012
Uhrzeiten
Formen überleben oft den Zweck und Inhalt ihrer Erfindung. Ein solches totes Gleis formaler Entwicklung ist die kleine innere rechte Hosentasche meiner Jeans, in der ich für Einkaufswagen gewöhnlich ein Euro-Stück bereithalte. Diese Tasche ist eine Uhrentasche und es ist verwunderlich, dass sie, einer alten Konvention folgend, immer noch Hosen eingenäht wird, die für Träger bestimmt sind, die niemals eine Taschenuhr tragen werden, nicht mal mehr eine Armbanduhr. Die Taschenuhr war in einer Öffentlichkeit, in der Präzision eine Rolle spielte, ein Wettbewerbsvorteil, gleichzeitig Schmuckstück, Wertgegenstand, der sich vererben ließ. Das hat sich längst auf die immer wieder nachzustellende Armbanduhr übertragen. Billige Armbanduhren ließen sich als Zeitmesser in Chinatown vor
Autoreifen schieben. Präzisionsuhren sind noch heute teurer
Männerschmuck, aber sie haben ihre Funktion verloren, wie die öffentlichen Normaluhren, die säkularen Nachfolger der Turmuhren. Ihr Verschwinden deutet keineswegs den Niedergang der Chronometrie an. Diese Uhren sind durch die Vielzahl elektrischer und elektronischer Uhren, netzgestützter Präzisionsuhren überflüssig geworden. Jedes Handy, jede Parkuhr, jede Bushaltestelle, jeder Receiver, jedes technische Gerät vom Computer bis zur Alarmanlage zeigt ungefragt die Zeit an, wobei die Zeiten bei Funkuhren oder Internetverbindung zudem bis auf Millisekunden synchronisiert sind. Die computergestützte Chronometrie feiert den Triumpf der Genauigkeit und Allgegenwart der Uhr. Die Uhrentaschen erinnert daran, dass Uhren stehen bleiben und falsch gehen konnten, aber auch, dass sich die Zeitvermessung nach wie vor an den Menschen abarbeitet, die sich nicht an sie halten wollen.
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