Montag, 25. November 2013

Man muss es nur machen

Hier ein Gedächtnisprotokoll des letzten Freitag laufenden Kinderfilmsymposiums des Filmbüros NW "Alles Wickie oder was?"


Impulsreferat Horst Peter Koll. Er legt sich ins Zeug, emotionale Ansprache, eine Suche nach Visionen, Verbündeten. Keine Berührungsängste zum kommerziell agierenden Kino, auch nicht zu Literaturverfilmungen. Ein Plädoyer für den Kinderfilm in allen seinen Spielarten, für Sensibilität gegenüber Kindern und ihren Bedürfnissen, auch für schwierige Filme wie Kopfüber von Bernd Sahling. „Nehmt die Kinder ernst.“ Koll zitiert eine anrührende Passage aus Andreas Steinhövels Berlinale-Blog. Auch in seinem Witz und seiner Emphase ist das ein Vortrag, der die Tonart vorgeben müsste für die folgende Diskussion über den Kinderfilm.

Phillip Budweg, Produzent bei Lieblingsfilm unterbreitet die Produktionsbedingungen von so unterschiedlichen Filmen wie Wintertochter und Rubinrot. Wintertochter, Erstlingspitch einer jungen Drehbuchautorin beim Goldenen Spatz. Von Anfang an klar: Kein einfacher Stoff, kein einfacher Film. Lange Entwicklung, etwa zwei Millionen Budget für eine deutsch-polnische Koproduktion. Idee eines „Generationendramas“ – was vermutlich das eigentliche Problem dieses Films ist. Die Großelterngeneration, die noch den Krieg und Vertreibung erlebt hat, stirbt allmählich weg.

Zu den zwei Millionen Budget kamen lediglich 28.000 € Marketing-Gelder. Schleppender Vertrieb und keine Wiederaufnahme im Schulkontext. 30.000 Zuschauer. Arthouse, kein family entertainment, aber deutscher Kinderfilmpreis. Mein Eindruck: Ein nicht wirklich ausgegorener Film, der zwar auf eine poetische und optisch ansprechende Filmsprache setzt, die mein Sohn Julian mit acht Jahren nicht versteht, aber auf Humor zugunsten oft stereotyper emotionaler Wendungen verzichtet und ungut zwei Geschichten verquickt – zum Nachteil beider. Dass der Film auf amerikanischen Festivals gut ankam, liegt möglicherweise daran, dass er etwas über die DDR, den Krieg, das alte Deutschland erzählt, auf ein aktuelles Thema aufgepfropft. 

Rubinrot anders gelagert. Bestseller von Kerstin Gier, anvisiert: Mütter und Töchter gleichermaßen. Tele München Concorde haben das gleich an Twylight angebunden, als Nachfolgefilm. Budget über 6 Millionen, Werbeetat 1,5 Millionen. Kombination des Hypes um den zweiten und dritten Band – die bei der Entwicklung noch nicht vorlagen – der Trilogie, mit den Effekten einer gut finanzierten Marketingcampagne erbringen trotzdem nicht mehr als 482.000 Zuschauer. Allerdings obendrauf 80.000 DVDs. Dank Senderbeteiligung RTL ist jetzt der Nachfolgefilm finanzierbar.

Bettina Brokemper: Dann war ja im Verhältnis das Marketing zu Wintertochter erfolgreicher. Erklärungsversuche, warum der „kalkulierte Filmbestseller“ keiner geworden ist: FSK 12 hätte abgeschreckt (später wird es noch heißen: FSK ist ein Anreiz, die Grenze zu überschreiten – zehnjährige sehen am liebsten Filme „ab 12“, „ab 16“). Das Problem versucht Budweg anders zu fassen. Die Zielgruppe der Mädchen über 10 sei ein „scheues Reh“. Man will sich da nicht mit Mama zusammen im Kino wiederfinden. Der DVD-Verkauf spricht dafür, dass die Leserinnen des Buches auch den Film lieber zuhause sehen. Interessant, welche Wirkung die RTL-Ausstrahlung noch haben wird. Meine Diagnose: Die weibliche Hauptfigur ist überzeugend besetzt, aber der männliche Hauptdarsteller ist nicht der Typ, der wie Leonardo di Caprio die Frauen- und Mädchenherzen schmelzen lässt. Das gibt bei einem solchen Mainstream-Stoff klar Abzüge.

Wenka von Mikulicz von Bojebuck hat Hände weg von Mississippi vorgeschlagen und dramaturgisch betreut, jetzt Bibi und Tina. Sie benutzt Formulierungen wie „moderne Oberflächlichkeit“, sie liebt die einfachen Erzählstrukturen eines Films für die ganze Familie, die Möglichkeit mit einfachen und klaren Bösewichtern zu erzählen. Andererseits arbeitet sie sich an der Atmosphäre des Arthouseanspruchs ab, die im Plenum greifbar ist. Nicht unsympathisch in dem Bemühen, die eigenen Widersprüche zu formulieren, ohne sie wegzudrücken. Buck sei mit Hände weg von Mississippi zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt, dem Film über das Landleben in Schleswig-Holstein. Dass zwischen diesem Film und Karniggels nicht nur Jahrzehnte sondern auch stilistisch Welten liegen (unter anderem darin, dass Mississippi intern vorav sämtlichen Erfolgskontrollen unterworfen worden ist und die Verfilmung eines erfolgreichen Kinderbuchs inklusive Hörbuch ist), ist auch so ein Widerspruch: Sie mag Bucks Filme offensichtlich, ob low budget Regionalkomödie oder Kommerzkinderkino. Bibi und Tina ist nun der Versuch, nicht an ein erfolgreiches Kinderbuch, sondern an eine „Marke“, eine erfolgreiche Trickfilm- und Hörbuchserie anzuknüpfen, Mädchen, Pferde, Zauberei. Kleine Miniatur über Herrn Blatz von Kiddinx, der Buch als Regisseur gar nicht kannte. Überzeugung und Klarheit der Definition der Figuren durch die Historie ist gleichzeitig Fluch und Segen: Man kann kaum damit erzählen, weil Tina „das so nicht sagen würde“, niemals etwas Böses tun würde, überhaupt Böse nie wirklich böse sind. Wenka, selbst bekennendes ehemaliges Pferdemädchen, weiß um die Beschränktheit der Bibi und Tina-Zeichentrickfilme. Aber ist das nicht auch eine Chance? Am Ende stellt sie, ein Gestus der Selbstverteidigung, die Frage, ob Kinder sich überhaupt Arthouse-Filme ansehen.

Die Antwort kommt im nächsten Panel und sofort: sie tun es. Meike Martens berichtet von der Premiere von Ednas Tag ein Dokumentarfilm von Bernd Sahling über ein Roma-Mädchen und seine Schwierigkeiten mit der Schule und die Schwierigkeiten der Schule mit ihr. Eine Mitdarsteller, der im dunklen Kinosaal gedisst wurde, ging nach heißer Diskussion im Anschluss an den Film auf die Bühne und bekam Szenenapplaus. Allgemein: Wenn die Kinder diese Filme zu sehen bekommen, beschäftigen sie sich intensiv damit. Frage allerdings: Wann bekommen sie die zu sehen? Ähnlich gelagert: Pommes essen von Tina von Traben, ausgesprochen witzig erzählte Schwesterngeschichte im Ruhrgebiet. Wer ihn sieht, ist begeistert, aber wer hat ihn schon gesehen? Es gibt viele Filme wie diesen, die ohne Senderbeteiligung zustande gekommen sind.

Warum ist es so, dass weder die Blockbuster des „familiy entertainment“ noch die preisgekrönten Thematisierungen von Lebensweltproblemen aus Deutschland kommen, sondern aus den Niederlanden, Frankreich, Kanada, Skandinavien? Gibt es Themen, die man im Kinderfilm nicht erzählen kann? Wenka von Mikulicz ist da sicher. Diverse! Selbstmord, Mobbing. Einwand: Das sind doch genau die Themen der Publikumserfolge aus den Niederlanden. In die Diskussion schaltet sich wieder Bettina Brokemper ein: Selbstmord, Tod, Trennung, das ist doch die Lebenswirklichkeit der Kinder. Warum hat man in Deutschland so viel Angst davor? Es muss doch nicht nur Filme mit Pferden, Bibis und Tinas geben, die nicht wehtun, aber auch die Kinder weichspülen. Ingrid Prassel: Es gibt bei Kindern keine Tabuthemen, eher bei den verantwortlichen Erwachsenen. Wenka von Mikulicz hakt nach. Sie will wissen, was denn die Jugendlichen umtreibt. Antwort: Sexualität, durchaus auch Fragen wie, woher komme ich (Wintertochter), aber keine pädagogische Aufbereitung, keine Überformung mit durchgängigem Leid und Hoffnungslosigkeit. Frage in die Runde: Kann es sein, dass es weniger auf die Themen ankommt, als auf bestimmte Erzählformen, die in Deutschland nur am Rand vorkommen. Stichwort: Humor, gerne auch kindgerecht. Das wird bejaht, natürlich von Tina von Traben, die das eben kann, ernste Themen witzig erzählen. „Der besondere Kinderfilm“ wird begrüßt, aber sowohl Phillip Budweg, als auch Meike Martens haben so ihre Zweifel, ob das für die Öffentlich-Rechtlichen nicht zur Ausrede für weiteres Engagement wird. Die Diskussion muss abgebrochen werden. Die Zeit ist um.

Dave Schramm, der beim letzten Panel schon vorne im Publikum gesessen hat, stellt sich und seine Amsterdamer Firma Shooting Star vor. Eine fast kindlich unbekümmerte und unaffektierte Selbstdarstellung eines Machers und Selfmademans, wie es sie ja nicht selten unter Produzenten gibt. Seit er 15 ist, dreht er Filme, hat sie bereits während des Studiums selbst produziert. Lange Entwicklung der Stoffe, kreative Marketing-Ideen bereits beim Casting, aufwendige Castings überhaupt. 4.000 Kinder wurden für seinen bislang letzten Film Spijt gecastet, jeder durfte mitmachen und auch die Verlierer wurden via Facebook in die Werbekampagne für den Film eingebunden. Und im Vorfeld der Premiere wurden 1.500 Lehrer – und nur Lehrer – zu Vorabscreenings eingeladen. Im Zuge der Premiere wird mit den Hauptdarstellern durch die Dörfer getingelt. Und das scheint eine große Party für alle zu sein. Seine Filme hatten zuletzt um die 400.000 Kinobesucher allein in den Niederlanden. Pro Jahr werden in den Niederlanden 12 Kinofilme produziert (jeden Monat einer). Schramm steht in engem Kontakt zu den Kinobesitzern und schnürt Paketdeals direkt mit denen. Beeindruckende Bilanz aber auch beeindruckendes Arbeitspensum. Tenor: Man muss es nur machen.

Margit Albers stellt die Initiative Der besondere Kinderfilm vor. Seit der gestiegenen Aufmerksamkeit auf Kinderfilme ab etwa 2001 (Emil und die Detektive) und dem Erfolg von Wickie und die starken Männer (meist gesehener Kinofilm 2009) gibt es mehr Aufmerksamkeit auf den Kinderfilm/Familienfilm. Idee ist, eine feste Förderung von sechs Projekten hin zu zwei bis drei realisierten Filmen pro Jahr einzurichten. Angeschlossen: Akademie für Kindermedien. Erfolge: Wer küsst schon einen Leguan?, Wintertochter, Kopfüber wurde da auch entwickelt. Erfahrung: Sehr lange Finanzierungsphase, Probleme an Geld zu kommen, weil oftmals keine Senderbeteiligung und dann Probleme mit den Fördergeldern. Für erste Förderphase gab es beim Besonderen Kinderfilm 108 Einreichungen. Davon 80% „gestorbene Mütter“. Die Lektoren diagnostizieren: Viel zu viel düstere Stoffe in düsterer Erzählhaltung. Brigitta Mühlenbeck stimmt schnell in das Autorenbashing ein: Es gibt keine adäquaten Kinderstoffe. Deshalb nimmt man dann auch lieber Buchvorlagen. Da weiß man, was man hat. Sie bezweifelt, dass das Beharren auf Originalstoffen sinnvoll ist. Kurios, weil gerade ihr erfolgreichstes Modell – Shaun das Schaf – ein Originalstoff ist und dem Buchstoff Blaubär den Rang abgelaufen hat. Horst Peter Koll schaltet sich spät in die Diskussion ein, die inzwischen zu einem Schlagabtausch zwischen Albers/Mühlenbeck einerseits und Publikumsvertretern andererseits geworden ist: Er versteht die gegenseitigen Vorwürfe nicht. Es gibt jeden Tag einen Kinderfilm, man muss sich nur die Mühe machen, ihn zu sehen und bei den Kindern direkt zu bewerben. In gewisser Hinsicht zeigt diese Diskussion auch, wo wenn die Krux der deutschen Lage besteht: Es ist zu leicht, in gegenseitigen Schuldvorwürfen die eigene Verantwortung kleinzureden. Am Ende bleibt jedem eigentlich das überantwortet, was Dave Schramm auch in diesem Panel immer wieder wiederholt: Man muss es nur machen.

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